Die Republik Indien läutet in wenigen Tagen die größte demokratische Wahl aller Zeiten ein - ein Rekord zwar, für die 1,36 Milliarden Staatsbürger aber ein alter Hut. Denn aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums stehen die Parlamentswahlen schon seit der Unabhängigkeit 1947 immer wieder im Zeichen dieses Superlativs. Diesmal sind rund 900 Millionen Inder stimmberechtigt, etwa 180 Millionen mehr als 2009, und angesichts der Dimensionen ist ein sechswöchiger Wahlzeitraum vorgesehen, der am 11. April beginnt und am 23. Mai in der Bekanntgabe der Ergebnisse gipfelt.

Noch vor einem Jahr galt ein Sieg des seit 2014 amtierenden Ministerpräsidenten Narendra Modi, 68, und seiner hindunationalen Bharatiya Janata Party (BJP, "Indische Volkspartei") als so gut wie sicher. Derart eindeutig ist die politische Gemengelage in der Hauptstadt Neu-Delhi heute nicht mehr. Insbesondere bei den Regionalwahlen in insgesamt fünf Bundesstaaten im Dezember 2018 wurde deutlich, dass nunmehr viele mit BJP und Modi unzufrieden sind. So gewann vor drei Monaten in drei Teilstaaten mit zusammen etwa 180 Millionen Einwohnern überraschend der Erzrivale der BJP, die traditionsreiche Kongresspartei - ein klares Indiz für nachlassende Modi-Begeisterung.

Der Regierungschef, als Reformer angetreten, hat in den vergangenen fünf Jahren ein durchwachsenes Bild abgegeben. Vor allem seine Wirtschaftspolitik hat zukunftsweisende Akzente gesetzt, die seinen Ruf als wirtschaftsnaher - und damit börsenfreundlicher - Politiker bestätigten. Ein Schritt nach vorn war insbesondere die Umsatzsteuerreform, die Goods and Services Tax (GST). Sie wurde vielerseits als überkomplex und unausgegoren abgetan, und sie hat, da sie digitale Steuererklärungen forcierte, zahllose Klein- und Kleinstunternehmen überfordert, die oft noch nicht einmal einen Computer im Inventar hatten.

Die Kritik war berechtigt. Aber die GST ist dennoch eine Verbesserung. Sie ist im geschäftlichen Alltag angekommen und erhöht die Steuerbasis in einem Land, in dem traditionell ein Großteil der Wirtschaftsleistung ohne den Umweg über irgendwelche Finanzbehörden erzielt wurde.

Positiv wirkt sich auch die Einführung eines neuen Insolvenzrechts aus, das den Umgang mit Pleiteunternehmen - von denen es in Indien reichlich gibt - gesetzlich regelt. Bislang verschwanden zahlungsunfähige Firmen keineswegs von der Bildfläche, wie in anderen Jurisdiktionen üblich. Sie vegetierten vielmehr als unternehmerische Zombies jahrelang vor sich hin. Alteigentümer durften trotz erwiesener Unfähigkeit weiterwursteln. Das ist heute anders. Marode Firmen und Kredite werden abgewickelt und machen Platz für pfiffigere, nachhaltigere Nachrücker - ein Erneuerungsmechanismus, den der Ökonom Joseph Schumpeter einst "schöpferische Zerstörung" nannte.

Die seit einigen Jahren schwelende Bankenkrise, die staatlich kontrollierte Institute weit mehr betrifft als private, ist ein Symptom dieses Sinneswandels. Die faulen Kredite in ihren Büchern wurden und werden Schritt für Schritt aussortiert. Kurzfristig ist diese Bereinigung schmerzhaft, langfristig stabilisiert sie das Finanzsystem.

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Mehr Infrastruktur, weniger Korruption


Modi hat zudem zahlreiche Infrastrukturprojekte auf den Weg gebracht, was sich Indien dank der insgesamt soliden Haushaltslage - nicht zuletzt eine Folge von Subventionskürzungen - leisten kann. Das Land investiert in den Städte- und Straßenbau, in Flughäfen und Häfen, Stromnetze und erneuerbare Energien.

Die erste Shinkansen-Hochgeschwindigkeitstrasse ist zwischen Mumbai und Ahmedabad im Bau. Die allgegenwärtige Korruption und Kumpanei zwischen politischen Strippenziehern und Wirtschaftsbossen ging tendenziell zurück. Viele der zuvor bestens vernetzten und oft milliardenschweren Oligarchen rennen in Neu-Delhi keine offenen Türen mehr ein. Eine Basiskrankenversicherung für Hunderte Millionen wirtschaftlich benachteiligter Inder wurde eingeführt. Und die allgegenwärtige Umweltverschmutzung, die groteske Ausmaße angenommen hat, wurde zumindest als Problem erkannt und ist Chefsache. Eine Fülle von Maßnahmen, darunter das Programm Swachh Bharat ("sauberes Indien"), weisen zumindest in die richtige Richtung. So weit, so gut.

Doch es gab auch Flops, allen voran die Währungsreform im November 2016, bei der binnen Stunden der größte Teil der umlaufenden Banknoten für ungültig erklärt wurde. Die sogenannte Entmonetarisierung sollte Schattenwirtschaft und Schwarzgeld eliminieren, wurde aber dilettantisch angegangen und geriet zum Fiasko. Praktisch alles Bargeld, das damals par ordre du mufti verboten wurde, hat inzwischen den Rückweg in den Geldkreislauf gefunden. Im Nebeneffekt blamierte und schwächte die Aktion die Reserve Bank of India, signalisierte sie doch, dass die Notenbank keineswegs unabhängig von den Irrungen und Wirrungen der Politik war, sondern deren Spielball.

Als Modis größte Schwäche stellt sich jedoch mehr und mehr seine Förderung (oder wenigstens Tolerierung) hindu-nationaler Strömungen heraus, die in der BJP sowie in ihr nahestehenden Parteien und Organisationen ein Sammelbecken gefunden haben. "Hindus first" lautet ein Leitmotiv dieser Denkweise, um es in Anlehnung an US-Präsident Donald Trump zu formulieren, was die problematische These nach sich zieht, dass es Inder erster und zweiter Klasse geben könnte. Etwa 80 Prozent der Bevölkerung Indiens sind Hindus, die anderen sind es nicht und entsprechend wenig begeistert. Insofern werden Modi und seine Verbündeten von vielen im In- und Ausland als Spalter der Gesellschaft gesehen.

Die Kongresspartei sieht sich dagegen traditionell als säkulare Partei der Integration. Sie wird seit Gründung der Republik von der einflussreichsten Familie Indiens kontrolliert, den Gandhis. Mittlerweile hält der 48-jährige Rahul Gandhi als Parteichef und Spitzenkandidat die Fäden in der Hand. Er ist der Urgroßenkel eines indischen Ministerpräsidenten (Jawaharlal Nehru), der Enkel einer Ministerpräsidentin (Indira Gandhi) und der Sohn eines Ministerpräsidenten (Rajiv Gandhi).

Das ist ein toller Stammbaum. Zugleich ist es aber politische Tollheit, denn die elitäre Nehru-Gandhi-Dynastie, die seit mehr als 70 Jahren im Machtzentrum Neu-Delhis operiert, hat die Kongresspartei zu einer Partei mit quasimonarchischer Erbfolge und einem Familienbetrieb gemacht. Rahul Gandhis Schwester Priyanka Gandhi verdient sich in Uttar Pradesh, Indiens größtem Bundesstaat, gerade erste politische Sporen. Auch sie könnte eines Tages in höhere Ämter berufen werden. Eine von Rahul Gandhis aktuellen Wahlkampfideen ist ein "Grundeinkommen" für alle Inder. Das zieht gerade bei ärmeren Wählerschichten. Der Umstand, dass irgendjemand diese Umverteilung zu bezahlen hätte, wird eher selten erwähnt.

Doch ob nun Kongresspartei oder BJP: Indiens Wirtschaft wächst schon seit Anfang der 1990er-Jahre, als die Congress-Politiker P. V. Narasimha Rao und Manmohan Singh eine erste Welle der Wirtschaftsreformen einleiteten, zwischen vier und zehn Prozent im Jahr. Allein seit Modis Amtsantritt vor fünf Jahren dürfte das Bruttoinlandsprodukt um etwa 40 Prozent gestiegen sein. Selbst wenn man das Bevölkerungswachstum - um 1,2 Prozent im Jahr, also mehr als 15 Millionen Menschen - herausrechnet, ist dies eine spektakuläre Entwicklung. 2019 dürfte Indien, schätzt der Internationale Währungsfonds, inflationsbereinigt um 7,5 Prozent wachsen, mehr als jede andere große Volkswirtschaft - Modi sei Dank (so die BJP) oder Modi zum Trotz (so Congress). 2020 dürfte es ähnlich flott weitergehen.

Ein Treibsatz dieses Booms ist neben der liberalen Wirtschaftspolitik der Modi-Regierung die fortschreitende Digitalisierung der Wirtschaft. Noch vor drei Jahren gab es gut ein Dutzend Telekomanbieter. Ein Smartphone oder gar iPhone war damals selten und teuer. Seitdem hat der Telekomsektor eine Revolution erlebt. Katalysator des Umbruchs war das Konglomerat Reliance Industries (RIL), ein Energie- und Chemieriese. RIL war hochprofitabel und finanzierte mit seinem Cashflow die Expansion in andere Geschäftsbereiche. Das Unternehmen ist heute nicht nur der größte Einzelhändler in Indien, sondern mit seinem 2016 eingeführten Telekomableger Jio neben Vodafone Idea und Airtel Marktführer. Die übrigen Telekomanbieter gingen unter oder wurden geschluckt - ein weiteres Beispiel für "schöpferische Zerstörung".

Datenübertragung ist heute nirgends auf der Welt so billig wie in Indien, Smart-phones sind allgegenwärtig. Die rasche Digitalisierung ist ein Katalysator für weiteres Wachstum. Insbesondere der traditionell starke IT-Sektor wird auf Jahre hinaus davon profitieren. Während Anleger in Deutschland in viele indische Unternehmen nicht direkt investieren können, sind einzelne Topaktien dieser Branche - etwa Infosys und Wipro - bei uns als ADR (American Depository Receipt) handelbar.

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Starkes Wachstum hat seinen Preis


Für die Börsen in Mumbai wäre eine Wiederwahl Modis ein ermutigendes Signal. Der Sensex-Leitindex legte seit Anfang 2014 um knapp 70 Prozent zu. Der Kurs von RIL, wiederholt eine Kaufempfehlung von BÖRSE ONLINE, hat sich seitdem sogar mehr als verdreifacht. Der Konzern ist mit einer Marktkapitalisierung von fast 108 Milliarden Euro nun das größte Börsenunternehmen des Subkontinents. Der indische Aktienmarkt ist mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 23,5 zwar optisch teuer, allerdings erscheint eine ambitionierte Bewertung angesichts der Wachstumsdynamik nicht übertrieben.

Der aus heutiger Sicht eher unwahrscheinliche Sieg der Kongresspartei bei den Wahlen wäre keine Katastrophe. Lediglich ein deutliches Nachlassen der Wirtschaftsdynamik könnte die Börsenkurse einbrechen lassen - davon ist aber auf absehbare Zeit nichts zu sehen.

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Auf einen Blick: Indien