Ein Wert sprang Börsianern beim Blick auf den deutschen Kurszettel zuletzt immer wieder ins Auge: Die Aktie des Onlineversenders Shop Apotheke belegte im vergangenen Jahr den Spitzenplatz im MDAX bei der Kursperformance, um rund 240 Prozent ging es nach oben. Und ins neue Jahr ist das Papier des Arzneimittelsenders vielversprechend gestartet. Den Kursschub verdankt das Unternehmen aus dem niederländischen Venlo auch Millionen neuer Kunden, die die Dienste in der Pandemie erstmals nutzten. €uro am Sonntag sprach mit Chef Stefan Feltens über den Boom des Medikamentenversands in Deutschland in Corona-Zeiten, die Chancen durch die Digitalisierung im Geschäft mit verschreibungspflichtigen Arzneien sowie die Risiken und Nebenwirkungen der Aktivitäten des US-Onlinehändlers Amazon.

€uro am Sonntag: Herr Feltens, die Aktie von Shop Apotheke war 2020 einer der stärksten deutschen Nebenwerte auf dem Kurszettel und die renditestärkste im MDAX. Wie ist es, wenn das eigene Unternehmen zum Börsenstar wird?

Stefan Feltens: Die Kursentwicklung macht uns einerseits stolz, anderseits bedeutet das auch eine Verantwortung. Wir haben operativ zwei sehr starke Jahre hingelegt. Es freut uns natürlich, dass dann auch der Kurs steigt. Doch wir müssen auch künftig dem Anspruch der Investoren gerecht werden, etwa indem wir positive Cashflows erwirtschaften.

Vor einem Jahr waren Sie noch defizitär und peilten operativ die schwarze Null an. Doch seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 zog das Geschäft rasant an. Kam mit den jüngsten Schließungen im Dezember der nächste Umsatzschub?

Wir spüren seit Mitte Dezember wieder einen Nachfrageschub. Die Beschleunigung des Wandels vom Offline- zum Onlinehandel, die in der Pandemie eingesetzt hat, hält an. Wir haben unser Jahresziel beim Umsatz 2020 mit 38 Prozent Wachstum mehr als erreicht, die versprochene operative Rendite von rund zwei Prozent sollten wir auch schaffen. Allerdings ist der Jahresabschluss noch nicht durch. Ich kann Ihnen noch keine Prognose für 2021 geben, aber wir sind stark gestartet und streben weiter hohes Wachstum an.

Sie nehmen gerade am neuen Firmensitz im niederländischen Sevenum ein neues, weitaus größeres Logistikzentrum in Betrieb. Wie lange wird das die Expansion tragen können?

Der neue Standort ist zwar viel leistungsfähiger als der alte in Venlo, aber dennoch wird das nicht für alle Zeiten reichen. Kapazitätsbeschränkungen sind für die nächsten zwei Jahre sicher beseitigt, alles weitere hängt vom Umsatzwachstum ab.

Sevenum schafft angeblich rund 100.000 statt zuvor 39.000 Pakete pro Tag. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Umsatz, derzeit knapp eine Milliarde Euro im Jahr, um Faktor 2,5 zulegt?

Das ist eine richtige Schlussfolge- rung. Wir haben sehr ambitionierte Umsatzziele.

Wie funktioniert der Umzug nach Sevenum bei laufendem Motor?

Das geht Zug um Zug. Die ersten Pakete aus Sevenum werden bereits in unsere internationalen Märkte wie Italien, Frankreich oder Belgien geliefert. Wir fahren hier gerade unsere neuen, deutlich stärker automatisierten Logistikprozesse hoch. Künftig werden wir eine Automatisierungsquote nahe 50 Prozent haben. Wenn das alles stabil läuft, dann übernimmt Sevenum die Auslieferungen nach Deutschland. Bis dahin wird unser größter Markt aus Venlo beschickt.

Jüngst ist Amazon in den USA in den Arzneimittelhandel gestartet, die Kurse bekannter US-Drogisten wie Walgreen sind daraufhin eingeknickt. Rechnen Sie bald mit Konkurrenz durch den Internetriesen in Deutschland?

Von der Ankündigung waren wir nicht überrascht, das war nach der Übernahme der Firma Pillpack durch Amazon vor zwei Jahren bloß eine Frage der Zeit. Stand heute sehen wir keine Anzeichen, dass Amazon in den kontinentaleuropäischen Markt eintritt. Gewöhnlich sucht sich Amazon Märkte, in denen sie sehr schnell wachsen können. Im Gesundheitsmarkt in Europa wird das regulatorische Umfeld weitgehend durch nationales Recht geregelt, das macht die Sache nicht gerade einfach. In den allermeisten Ländern Europas können weder wir noch Amazon eine Apotheke kaufen.

In Deutschland dürfen das nur Apotheker. Der Versender Shop Apotheke hat es aber auch in den deutschen Markt geschafft.

Sicher, man kann in Europa in einen Markt mit günstigem regulatorischen Umfeld gehen, etwa die Niederlande. Dann könnte man eine Apotheke gründen. Das ist nicht unmöglich, wäre aber zeitintensiv und untypisch für Amazon. Die andere Option wäre, einen etablierten Wettbewerber zu kaufen.

Zum Beispiel Shop Apotheke. Solche Szenarien werden an der Börse gespielt. Sehen Sie sich als Übernahmeziel?

Nein. Unsere Strategie ist es, auf eigenen Beinen zu stehen. Wir haben ein sehr attraktives Angebot für unsere Kunden. Auch der Bekleidungsmarkt zeigt, dass es möglich ist, als Onlinehändler mit tollem Angebot zu bestehen. An Zalando hat sich Amazon bislang die Zähne ausgebissen.

Soeben haben Sie selbst übernommen, die Münchner Smartpatient, die eine App für Patienten mit chronischen Krankheiten entwickelt hat. Es ist mit einem hohen zweistelligen Millionenvolumen ihre größte Übernahme bisher. Was steckt dahinter?

Der Bereich Digital Health ist eine Säule unserer künftigen Entwicklung. Mit Smartpatient erwerben wir einen langjährigen Experten im Bereich Medikationsmanagement. Hier geht es um die Versorgung von Chronikern mit verschreibungspflichtigen Arzneien.

Was kann die App? Geht das über ein Online-Lieferabo hinaus?

Die Erfahrung hat gezeigt, dass Patienten mit der App ihre Therapie weitaus konsequenter und erfolgreicher durchführen als ohne. Das dient dem Patienten. Uns bringt dies im Bereich verschreibungspflichtiger digitaler Rezepte deutlich weiter. Wir stehen ja in Deutschland vor der Einführung des elektronischen Rezepts Mitte dieses Jahres, Anfang 2022 wird das dann verpflichtend. Spätestens dann wollen wir hier ein umfassendes digitales Angebot bieten.

Wie relevant ist dieser Termin im Januar 2022 für Sie?

Das ist eine große Chance für uns. Wenn Sie unser komplettes apothekentypisches Sortiment mit derzeit 130.000 Artikeln betrachten, dann liegt die Onlinequote in unserem größten Markt Deutschland bei etwa 20 Prozent. Im verschreibungspflichtigen Segment sind wir davon mit bloß einem Prozent Onlineanteil Lichtjahre entfernt. Das wird sich aber ändern, in Schweden, wo es das E-Rezept schon gibt, liegt die Quote bei zwölf Prozent. Wir und andere schätzen, dass sich der Onlineanteil in Deutschland hier über mehrere Jahre hinweg Richtung zehn Prozent entwickeln wird. 2020 haben wir hier deutlich über 200 Millionen Euro Umsatz erzielt. Da ist also noch enorm viel Luft nach oben.

Sind die Deutschen Onlinemuffel oder warum ist die Quote noch so gering?

Wenn sie heute in der Stadt zum Arzt gehen und ihr Rezept auf Papier erhalten, liegt es sehr nahe, im Erdgeschoss oder in unmittelbarer Nachbarschaft in die nächste Apotheke zu gehen und es einzulösen. Wenn sie ihr Rezept online einsetzen wollen, müssen sie es erst per Post zu uns senden und erhalten ihre Arznei ein, zwei Tage später. Mit der Einführung des elektronischen Rezepts Anfang 2022 wird das ganz anders. Beim Arzt wird ein Code in die Cloud geladen und Sie können dann auf das Rezept per Smartphone-App zugreifen. Damit können Sie direkt vom Handy aus online bestellen.

Viele ältere Menschen haben aber kein Smartphone.

Das stimmt. Es wird eine Option für den Arzt geben, das Rezept als QR-Code auszudrucken und dem Patienten zu geben. So kann es auch in der Apotheke nebenan eingelöst werden.

Bis Mitte Dezember entlohnten Sie Patienten, die ihre Rezepte für verschreibungspflichtige Medikamente zu Ihnen schickten, mit einem Geldbonus. Diese Boni sind seither durch das Vor- Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz (VOASG) von Gesundheitsminister Jens Spahn verboten. Ist das ein Rückschlag?

Die Europäische Kommission hat hier schon Bedenken angemeldet, dass das VOASG nicht europarechtskonform ist. Es könnte ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik geben. Denn der Europäische Gerichtshof hat 2016 einen strukturellen Wettbewerbsnachteil für ausländische Wettbewerber im deutschen Apothekenmarkt identifiziert und entschieden, zum partiellen Ausgleich sollte es ausländischen Wettbewerbern aus dem Versandhandel erlaubt sein, Boni anzubieten. Das Urteil steht, deshalb gibt es ja auch aus der Opposition in Berlin viele Stimmen, die das VOASG als europarechtswidrig kritisieren.

Und wie groß ist der Schaden für Shop Apotheke?

Momentan verzichten wir auf die Bonuszahlung. Sie war sicher bislang ein wichtiger Treiber für das Geschäft mit rezeptpflichtigen Medikamenten. Mit der Einführung des verbindlichen elektronischen Rezepts wird sich das aber ändern. Der Anreiz wird dann nicht mehr Bares sein, sondern die Bequemlichkeit, die der Onlinevorgang bietet. Wir gehen überdies davon aus, dass die Kommission bei ihrer Position bleibt. Mir ist es schleierhaft, wie Berlin noch während der Europäischen Ratspräsidentschaft sehenden Auges in ein zweites Mautdebakel rennt.

Sie sind Europas Nummer 1, stehen aber in Deutschland hinter der Schweizer Zur-Rose-Gruppe, die auch die Marke Doc Morris betreibt. Wann wird Shop Apotheke auch hierzulande Marktführer?

Mit der Marke Shop Apotheke liegen wir in Deutschland schon vorn. Wenn Sie alles zusammenzählen und alle Akquisitionen von Zur Rose zusammennehmen, sind wir Nummer 2. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wir hier weitere Fortschritte machen.

Langfristig liegt Ihr Ziel bei einer Vorsteuermarge von sechs Prozent. Wie wollen Sie dahin kommen?

Ein Treiber für unsere Profitabilität sind die Skaleneffekte, auf die wir zielgerichtet hinarbeiten, sozusagen das Einmaleins des E-Commerce-Geschäfts. Unsere Kosten wuchsen 2019 schon weniger stark als der Umsatz, das hat sich 2020 fortgesetzt. Auch unsere Einkaufskonditionen verbessern sich kontinuierlich. Überdies nehmen wir 2021 unseren Online-Marktplatz in Betrieb, dann handeln auch Drittanbieter über unsere Plattform, wir planen so Sortimentserweiterungen. Noch bieten wir etwa keine Kontaktlinsen an, das werden wir künftig über Partner tun. Und wir bauen das Geschäft mit Eigenmarken stark aus. Da geht es um Nahrungsergänzungsmittel oder um Standardarzneien unserer Marke RedCare. Die Margen liegen hier deutlich über dem reinen Handel, ein wesentlicher Treiber unserer Profitabilität. Und wir forcieren das Geschäft mit Werbeflächen auf unseren Webseiten, das heute schon wichtige Teile unseres Ergebnisses liefert. Auch das wird überproportional wachsen.

Ist irgendwann auch eine Dividende denkbar?

Derzeit ist das Potenzial des Marktes so gewaltig, dass es nicht im Interesse der Aktionäre wäre, in absehbarer Zeit Gewinne auszuschütten. Das ginge zulasten des Wachstums. Wir haben immer wieder lebhafte Diskussionen im Management-Team, ob Wachstum oder Profitabilität im Vordergrund stehen sollen. Wir haben 2020 gezeigt, dass wir hier eine sehr gute Balance schaffen.
 


Vorstand:

Eingespielte Mannschaft

Stefan Feltens (56) kam vom Generikakonzern Teva, er arbeitet seit zwei Jahren für Shop Apotheke. Feltens leitet das Unternehmen gemeinsam mit den Gründern Stephan Weber (Chief Commercial Officer) und Marc Fischer (Chief Information Officer) sowie Finanzchef Jasper Eenhorst und der verantwortlichen Apothekerin Theresa Holler (Lager, Logistik, Customer Service).
 


INVESTOR-INFO

Shop Apotheke:

Geschäft mit Momentum

Die Aktie des Arzneiversenders zählt klar zu den Pandemiegewinnern. 2020 steigerten die Niederländer, die in Deutschland ihren größten Absatzmarkt haben, den Umsatz um 38 Prozent auf rund 970 Millionen Euro und gewannen 16 Millionen Neukunden. Operativ wurde die Gewinnschwelle erreicht. Für 2021 rechnen Analysten mit einem Umsatzplus von 23 Prozent und einer Verdoppelung des operativen Gewinns (Ebitda). Hohes Momentum, für risikobereite Anleger.