Es kommt in den besten Familien vor, dass ein Spross aus der Art schlägt. Siemens Energy, jüngstes Mitglied im DAX-Club um den Konzern, langte gleich richtig daneben. Nicht weniger als drei Mal patzte der Energietechniker, der seit Herbst 2020 gelistet ist, in seiner noch frischen Börsenkarriere bei den Prognosen. Nach der letzten Gewinnwarnung vor wenigen Tagen stürzte der Kurs binnen Kurzem über 20 Prozent ab. Aktionäre, darunter die Mutter, die noch 35 Prozent hält, verloren insgesamt rund drei Milliarden Euro.

Dabei war der Energiekonzern als Highflyer gestartet. Rasch gelang der Aufstieg in den Leitindex, der Kurs stieg nach dem Spin-off in der Spitze über 60 Prozent. Doch seitdem geht es stetig bergab. Auf rund zehn Prozent Verlust sitzen inzwischen jene Anteilseigner, die von Anfang an dabei waren.

Fast könnten einem die noch junge Siemens Energy, kurz SE, und ihr Chef Christian Bruch leidtun. Denn alle Gewinnwarnungen gingen auf das Konto einer spanischen Tochter, dem Windturbinenhersteller Siemens Gamesa Renewable Energy. An Gamesa hält SE zwar die Mehrheit der Anteile. Nicht zuletzt wegen des spanischen Aktienrechts hat SE die Tochter dennoch nicht im Griff. Der jüngste Patzer war für Investoren besonders bitter. Denn im Quartal von Oktober bis Dezember produzierte SE statt eines Gewinns wie im Vorjahr ein dickes Minus von 240 Millionen Euro. Einen ebensolchen Rüffel kassierte der Jungspund dafür vom Familienoberhaupt. "Wir sind nicht zufrieden mit der operativen Leistung", sagte Siemens-Chef Roland Busch vernehmlich angespannt. Professionelle Investoren können sich nach dem jüngsten Bock des Firmen-Gewächses nur noch wundern. "Drei Gewinnwarnungen in Folge, das kann einfach nicht sein", sagt Vera Diehl, Fondsmanagerin bei Union Investment.

Die Hiobsbotschaften der Windkraftbeteiligung mit Sitz im baskischen Zamudio klingen immer gleich: Es gibt technische Probleme, zurzeit bei einer Windturbine für den Einsatz an Land, es hakt in der Projektabwicklung, zuletzt kamen noch exorbitant steigende Material- und Logistikkosten dazu.

Und da ist noch das leidige Thema mit dem Durchgriff. Zwar hält SE zwei Drittel der Gamesa-Anteile, der Rest notiert jedoch gestreut an der Madrider Börse. Im Kontrollorgan sitzen freie Aktionäre quasi immer mit am Tisch, das macht die Angelegenheit so schwierig. SE-Chef Christian Bruch schickt jetzt, mit Buschs Einverständnis, einen Sanierer an die Gamesa-Spitze. Jochen Eickholt heißt der neue Manager, der bereits die Verkehrstechniksparte Mobility auf Vordermann brachte.

Auf Hochtouren

Ganz im Gegensatz zum Nachwuchs dreht die Mutter gerade auf Hochtouren. Um bis zu acht Prozent schoss der Siemens-Kurs nach dem Gewinnschub im Weihnachtsquartal nach oben. Die Münchner erleben einen Ansturm der Kunden, die händeringend Material und Softwarelösungen für die Digitalisierung einkaufen. Im Konzern sprang der Ordereingang um 50 Prozent an. 93 Milliarden Euro an Aufträgen hat Siemens jetzt in den Büchern, im Vorjahr waren es rund 70 Milliarden. In der Sparte Digital Industries (DI), die Automatisierungstechnik und Software für Industriekunden bereitstellt, kletterte der Ordereingang um satte 70 Prozent.

Die DI-Programme zur Entwicklung, Planung und Steuerung der Produktion sind nicht nur bei den angestammten Kunden etwa aus der Stahl- und Automobilindustrie oder dem Maschinenbau begehrt. Auch Halbleiterhersteller, Elektronikproduzenten oder Batteriefabrikanten nutzen die Technik, die Siemens selbst in Produktionsstandorten wie dem bayrischen Amberg einsetzt. "Unsere Kunden investieren in die Digitalisierung. Wir nutzen unsere Chance, Marktanteile zu gewinnen", sagt Konzernchef Busch.

Hinzu kommt die Sondersituation der Pandemie, in der die weltweiten Logistikketten extrem angespannt sind. Viele Kunden bestellen auf Lager, damit sie auf alle Fälle genügend Teile haben. Der nach Umsatz größte und mit rund 22 Prozent operativer Marge auch profitabelste Siemens-Bereich DI registrierte in seinem wichtigen Markt China sogar einen Zuwachs um knapp 80 Prozent. Das Management sieht dabei keine Gefahr, dass Kunden auf Verdacht bestellen, um anschließend wieder zu stornieren. "Die Eingänge sind valide. In asiatischen Märkten nehmen die Anzahlungsquoten sogar zu", sagt Finanzchef Ralf Thomas.

Trotz der Glanzzahlen ist Siemens selbst von den weltweiten Beschränkungen bei der Teileversorgung betroffen. "Wir spüren Engpässe insbesondere bei elektronischen Komponenten", erklärt Busch. Deshalb, so der Chef, könne man auch die Aufträge vieler Kunden nicht rechtzeitig ausliefern - seine derzeit größte Baustelle. Und ein überschaubares Thema angesichts einer Konzernhistorie, in der es lange vor kostspieligen Komplikationen nur so wimmelte - die verspätete Lieferung von ICEs an die Deutsche Bahn vor knapp zehn Jahren ist nur ein Beispiel. Der Finanzmarkt erwartet von Busch, dass er den Auftragsbestand so effizient wie möglich abarbeitet, um Kunden nicht zu vergraulen. "Die optimale Auftragsbearbeitung muss jetzt Top-Priorität haben", sagt Fondsmanagerin Diehl.

Verkäufe treiben Gewinn

In der Euphorie um die guten Zahlen des DAX-Konzerns - der Umsatz legte um gut neun Prozent zu, die operative Konzernmarge stieg auf 16 Prozent - ging ein Detail fast unter. Die Profitabilität des Sahnestücks DI sank auf 21,8 Prozent. Grund ist die Umstellung des Softwaregeschäfts auf Abonnementvertrieb, das sogenannte "Software as a Service"- oder SaaS-Modell. Zugunsten wiederkehrender Umsätze, die auch den Cashflow verstetigen, verzichtet DI auf den Vorteil der Vorauszahlungen im Lizenzmodell. Der Wechsel dürfte die Margen von DI noch länger dämpfen.

Dafür nehmen die beiden anderen Siemens-Bereiche Fahrt auf. Die Sparte Smart Infrastructure (SI) registriert starke Nachfrage nach energiesparender Technik etwa für Rechenzentren, viele Firmen investieren zudem in Beratung für eine bessere CO2-Bilanz. Die Verkehrstechnik fuhr einen Großauftrag über ICE-Züge im Wert von 1,5 Milliarden Euro ein und spielt allein durch den Verkauf der Straßenverkehrstechniksparte Yunex im laufenden Geschäftsjahr 600 bis 800 Millionen Euro Nachsteuergewinn ein. Auch wegen der Zuflüsse aus Verkäufen stellt Finanzchef Thomas in Aussicht, die Jahresprognose für den Gewinn pro Aktie womöglich zu erhöhen.

Die Medizintechniktochter Siemens Healthineers hat ihre Jahresziele bereits angehoben. Die Erlanger wollen den Umsatz statt um zwei nunmehr um drei bis fünf Prozent steigern. Das klingt angesichts des Wachstums der Mutter bescheiden. Doch die Vergleichsbasis ist hoch. Wegen des reißenden Absatzes von Corona-Schnelltests hatte Healthineers schon im abgelaufenen Geschäftsjahr um 20 Prozent zugelegt und einen Umsatzrekord markiert.

Der Medizintechniker, an dem Siemens unverändert 75 Prozent der Anteile hält, ist der heimliche Streber in der Siemens-Crew. Seit Ende September 2020 notiert die Aktie fast 50 Prozent im Plus. Das liegt auch an einer starken Idee und der Entschlossenheit des Teams um Chef Bernd Montag. Im Corona-Frühling 2020 brachte Healthineers mit einem Partner in China einen Corona-Schnelltest auf den Markt. Das schlug ein. Allein im vergangenen Geschäftsjahr flogen die Erlanger über 70 Flugzeuge randvoll mit Schnelltests aus China nach Deutschland. Das Geschäft läuft weiter gut, die höhere Prognose ist auch Folge davon.

Neben Innovationen wie jüngst dem weltweit ersten photonenzählenden Computertomografen (CT), der bei geringerer Strahlung schärfere Bilder liefert, bieten die Healthineers, die weltweite Nummer 1 bei bildgebenden Geräten sind, hohe Verlässlichkeit bei den Ergebnissen - ganz im Gegensatz zu SE. Ein Grund dafür ist das starke Servicegeschäft. Materialien und die fachgerechte Wartung der CTs und Diagnosegeräte, aber auch die Beratung großer Klinikketten, die mitten in der Digitalisierung stecken, sind gefragt.

Investoren mögen die Healthineers auch wegen ihrer langfristigen Wachstumschancen. Bei Krebstherapien etwa sind die Franken seit der Übernahme des US-Konzerns Varian weltweit mit an der Spitze, es ist eines der am schnellsten wachsenden Segmente der Gesundheitsbranche. Anfangs galt der Deal im Volumen von 16 Milliarden Dollar als zu teuer. Doch dank Varian bietet das Konzernportfolio das ganze Spektrum von der Diagnose bis zur Therapie, ein Plus bei Kunden. Montags ehrgeizige Ziele, wonach der Gewinn von 2023 bis 2025 neuerdings pro Jahr um zwölf bis 15 Prozent statt zehn Prozent pro Jahr steigen soll, überzeugen am Finanzmarkt.

Auch die Siemens-Aktie hat seit der Abspaltung des Energiebereichs im Herbst 2020 an Attraktivität gewonnen - und rund 30 Prozent Kursgewinn geliefert. Damit sind Anleger, die beim Spin-off von SE dabei waren, trotz der Kursverluste im Plus - und haben immer noch deutlich besser verdient als mit dem DAX. Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser, der den Plan ausheckte, das Kerngeschäft um die Digitalisierungssparten vom Rest loszulösen, schwebte allerdings eine grundlegende Neubewertung der Aktie vor. Das ist bislang nur ansatzweise aufgegangen. "Wir sind auf dem Weg einer Neubewertung", sagt Fondsmanagerin Vera Diehl.

Viel Arbeit für Kaeser

Kaeser selbst hat bis auf Weiteres als Aufsichtsratschef der schwächelnden Siemens Energy gut zu tun. Für das laufende Geschäftsjahr bis Ende September bleibt Vorstand Bruch nur, die angekündigten Verluste zu minimieren. Auch die für 2023 angestrebte operative Marge von 6,5 bis 8,5 Prozent steht wegen der Gamesa-Malaise auf dem Prüfstand. Die Hoffnungen ruhen jetzt auf dem erfahrenen Sanierer Eickholt, den Busch für seine Feuerwehrarbeit in der Verkehrstechnik lobt. Langfristig muss aber wohl eine Komplettübernahme her, um durchzugreifen.

Trotz dieser Schwäche und der Enttäuschungen scheint das Vertrauen der Investoren in SE zwar angeschlagen, aber nicht zerrüttet. "Es wird dauern, bis sie das hinbekommen. Aber sie werden es letztlich schaffen, auch wegen des Ehrgeizes von Herrn Kaeser", sagt Fondsmanagerin Diehl. Manchmal finden aus der Art geschlagene Sprösslinge doch noch den rechten Weg.
 


INVESTOR-INFO

Siemens

Die Neubewertungsstory

Die Quartalsergebnisse überzeugten auf ganzer Linie und zeigten überaus starke Nachfrage vor allem in der Automatisierungs- und Softwaresparte DI. Die Digitalisierung der Industrie ist in vollem Gange, Siemens profitiert und gewinnt Marktanteile. Das Wachstum bleibt hoch, die Profitabilität steigt. Die Aktie ist beim geschätzten Gewinnplus von mehr als 20 Prozent günstig und bietet zudem eine attraktive Dividendenrendite. Bei der Bewertung ist noch mehr drin. Kurspotenzial.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 170,00 Euro
Stoppkurs: 109,00 Euro

Siemens Energy

Die Turnaroundstory

Gut gestartet, dann gefloppt: Die Aktie der Energietechniktochter ist bislang eine Enttäuschung. Dabei haben die Berliner viel Technik für den Öko-Umbau auch der deutschen Energiewirtschaft im Angebot: Windräder, Wasserstofftechnologie, Gasturbinen, moderne Stromnetze. Die Hoffnung: Auf der Baustelle in Spanien, dem Windkonzern Gamesa, wird endlich aufgeräumt. Doch das kann dauern. Die Unsicherheit belastet, charttechnisch sollten Aktionäre den Stopp beachten. Turnaround-Kandidat, noch abwarten.

Empfehlung: Beobachten
Kursziel: 21,00 Euro
Stoppkurs: 16,90 Euro

Siemens Healthineers

Die Erfolgsstory

Topposition im langfristigen Wachstumsmarkt, hoher Anteil an wiederkehrendem Servicegeschäft. Der Medizintechniker bietet viele Pluspunkte, zuletzt kam mit dem Schnelltestgeschäft noch ein Wachstumsturbo dazu - allerdings läuft der aus. Nach dem erneut hohen Gewinnzuwachs im aktuellen Geschäftsjahr lässt Schätzungen zufolge die Dynamik nach. Die Aktie ist die teuerste der Familie. Bei Schwäche einsammeln.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 68,00 Euro
Stoppkurs: 44,80 Euro