€uro: Herr Tüngler, Sie sind Chef der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) und damit der wichtigste deutsche Aktionärsschützer. Die DSW hat 2021 auf 700 Hauptversammlungen (HV) die Rechte von Aktionären vertreten. Auf wie vielen davon waren Sie persönlich?

Marc Tüngler: Auf circa 35. Da die HV wegen Corona virtuell waren, war ich aber ausnahmsweise nicht vor Ort, sondern saß in meinem Büro vor dem Computer.

Heute läuten Thyssenkrupp, Siemens und Infineon die neue HV-Saison ein. Die Veranstaltungen finden weiter im Netz statt. Die Notverordnung, die das ermöglicht, wurde verlängert. Nervt Sie das?

Natürlich wünsche ich mir bald wieder Präsenzveranstaltungen. Schon allein, weil sich Aktionäre dort untereinander austauschen können. Im Moment ist das leider nicht möglich. 5000 Menschen in eine Halle zu quetschen, wäre auch unverantwortlich. Das Problem ist aber, dass Aktionärsrechte bei virtuellen HV auf Basis der Notgesetzgebung gerade mit Füßen getreten werden. Faktisch gibt es dort kein direktes Frage-, Rede- und Antragsrecht mehr und damit keinen unmittelbaren Dialog mit den Vorständen.

Man kann vorab Fragen schicken, oder?

Ja, meist per Mail. Letztes Jahr wurden die oft nur schriftlich irgendwo auf der Website beantwortet. Nachfragen waren nur bei fünf Prozent aller virtuellen HV möglich - angeblich wegen technischer Schwierigkeiten.

Bei Daimler konnte man immerhin kurze Videos einreichen. Ist das keine Lösung?

Da war ich aber der Einzige, der sich so zu Wort gemeldet hat. Das muss man sich einmal vorstellen: Früher gab es dort 8000 Teilnehmer und viele Stunden an Reden, Fragen und Anträgen. Das zeigt, dass das virtuelle Format in dieser Form für die Aktionäre nicht funktioniert. Und es zeigt vor allem, dass es die Aktionäre auch nicht wollen.

Die Ampel will virtuelle HV nun dauerhaft erlauben. Dort sollen für Aktionäre aber dann die gleichen Rechte gelten wie auf den Präsenzveranstaltungen. Geht das denn?

Genau dafür haben wir lange gekämpft. Grundsätzlich kann man auch auf virtuellen HV die Interaktion ermöglichen. Zum Beispiel mit einer Live-Schalte für Teilnehmer. Das gab es 2021 ausgerechnet bei der Deutschen Bank, obwohl es auf deren HV immer Kritik hagelt. Technisch wäre also viel möglich, wenn man möchte. Allerdings muss man aufpassen, dass es nicht andersherum läuft und kurzerhand die Rechte bei Präsenz-HV eingeschränkt statt bei virtuellen HV ausgeweitet werden. Auch dann gäbe es theoretisch ja wieder gleiche Rechte.

Können Sie verstehen, dass die Konzernchefs vielleicht manchmal ganz froh sind, sich den endlosen Fragen und der vielen Kritik der Aktionäre etwas zu entziehen?

Nein, sie wollen ja auch das Geld der Aktionäre. Dann müssen sie diese auch einmal im Jahr über das Geschäft informieren und sich deren Fragen und deren Meinung anhören. Immerhin sind die Aktionäre die Eigentümer des Unternehmens und der Vorstand ist ihnen Rechenschaft schuldig.


«Ich habe keine Hoffnung, dass Kapitalerträge fairer besteuert werden. Dem steht schlicht und einfach Olaf Scholz im Weg.»

In den USA oder Großbritannien sind die HV keine Endlosveranstaltungen wie bei uns. Dort können Aktionäre zum Beispiel auch keine Beschlüsse anfechten.

Das sind andere Rechtssysteme, in denen mit viel härteren Bandagen gekämpft wird. Dort haftet der Vorstand persönlich. Wenn etwas schiefläuft, können die Aktionäre ihn verklagen. Mit Blick auf die jüngsten Skandale bei deutschen Unternehmen wie Wirecard oder VW wäre das auch bei uns wünschenswert. Eine normale Versammlung dauert bei uns auch gar nicht so lange.