Es waren dramatische Tage im Sommer 2003. Die Mannheimer Lebensversicherung hatte sich mit Aktien verspekuliert und war in eine bedrohliche Schieflage geraten. Doch nicht die Schieflage an sich war das Problem. In früheren Jahrzehnten hatte sich stets ein Konkurrent gefunden, der solch einen Pleitekandidaten ohne viel Aufhebens übernahm. Doch diesmal steckte die gesamte Branche in Schwierigkeiten - das Platzen der Internetblase und der folgende weltweite Kurssturz hatten den Kapitalanlagen aller Akteure heftig zugesetzt.

So fand sich trotz fieberhafter Verhandlungen niemand, der die angeschlagene Mannheimer im Alleingang gerettet hätte. Immerhin reichte die Solidarität (und die gemeinsame Furcht vor einem irreparablen Imageschaden für das Produkt Lebensversicherung) so weit, dass eine gemeinsame Auffanggesellschaft namens Protektor entstand. Sie übernahm das komplette Unternehmen und führte es weiter.

Bis heute ist das der einzige Fall dieser Art geblieben. Nimmt man ihn als Maßstab, sind die Versicherten relativ glimpflich davongekommen. Wenn Verträge ausliefen, bekamen sie die komplette vereinbarte Summe ausbezahlt - also inklusive jenem Garantiezins, der bei Vertragsabschluss galt. Bei einer Reihe von Kunden sind das immerhin vier Prozent pro Jahr abzüglich Kosten. In manchen Jahren gab es noch eine Überschussbeteiligung obendrauf - je nachdem, wie sich die festverzinslichen Kapitalanlagen entwickelten (Protektor hatte umgehend alle Aktien und Immobilien verkauft).

Der Garantiezins ist nach menschlichem Ermessen auch weiterhin gesichert. Protektor hat zwar inzwischen sämtliche Policen an einen spezialisierten Abwickler namens Viridium übergeben, doch gelten für ihn ebenfalls die angestammten Regeln. Für darüber hinausgehende Überschussbeteiligungen gibt es allerdings angesichts der weltweiten Zinsflaute keinen Spielraum mehr.

Was würde heute in einem Fall à la Mannheimer passieren? Inzwischen ist das Sicherungsnetz engmaschiger, hier die Regeln im Detail:

- Seit 2005 ist Schluss mit der reinen Freiwilligkeit bei Rettungsaktionen. Stattdessen gibt es einen staatlich verordneten Sicherungsfonds, den Protektor verwaltet. Hier haben alle Lebensversicherer eingezahlt. Die konkrete Summe bemisst sich nach den jeweiligen Verpflichtungen des Lebensversicherers gegenüber seinen Kunden und wird jährlich leicht angepasst. Nach letztverfügbaren Zahlen sind gut eine Milliarde Euro im Topf. Zum Vergleich: Protektor wurde für die Mannheimer-Rettung mit 240 Millionen Euro ausgestattet.

- Kommt es zu einem Sanierungsfall und das Geld reicht nicht, muss die Branche nochmals maximal dieselbe Summe bereitstellen, die aktuell eingezahlt ist.

- Genügt auch das nicht, darf die Finanz- aufsicht Bafin den Kunden die vertraglich garantierten Leistungen um bis zu fünf Prozent kürzen. Gemeint sind sämtliche Einzahlungen, die mit dem jeweiligen Garantiezins verzinst wurden, abzüglich Kosten. Wenn also die garantierte Rente 1000 Euro beträgt, könnten im schlechtesten Fall 950 Euro daraus werden. Laut Protektor-Homepage darf die Bafin auch die bis dato aufgelaufenen Überschussbeteiligungen im selben Umfang reduzieren (im relevanten Versicherungsaufsichtsgesetz ist das nicht explizit erwähnt).


Es ist zweckmäßig, der Aufsichtsbehörde für den Fall einer drohenden Insolvenz den größtmöglichen Handlungsspielraum zu geben."
Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Grünen im Bundestag

- Ist auch das nicht genug, greift eine freiwillige Selbstverpflichtung der Branche, noch mehr einzuzahlen. Konkret: Existiert lediglich ein einziger Sanierungsfall, ist insgesamt maximal eine weitere Milliarde Euro fällig. Sind mehrere Schieflagen parallel zu verzeichnen, können sich weitere Sonderzahlungen auf acht Milliarden Euro summieren - allerdings gestreckt auf mehrere Jahre. Jährlich stehen maximal zusätzliche zwei Milliarden Euro zu Verfügung.

Tropfen auf den heißen Stein. Addiert heißt das: Die Branche ist bereit, pro Sanierungsfall bis zu drei Milliarden Euro herzugeben. Demgegenüber steht die gewaltige Zahl von einer Billion Euro, also mehr als das 300-Fache, an versicherungstechnischen Rückstellungen aller deutschen Lebensversicherer. Vereinfacht gesagt, sind das alle aktuellen und künftigen Ansprüche der Kunden gegenüber den Anbietern, wie sie sich finanzmathematisch berechnen lassen. Allein bei der Allianz Leben geht es um gut 200 Milliarden Euro.

Wenn der Marktführer pleiteginge, gäbe es zwar sicherlich Vermögenswerte, die man gegenrechnen könnte. Doch auch dann wären die drei Milliarden Euro wahrscheinlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein.


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Anzumerken ist: Laut Gesetz darf ein Versicherer sich selbst behelfen, schon bevor er in eine ernsthafte Schieflage gerät. Er kann die Prämien hochsetzen, wenn er sich - vereinfacht gesagt - ohne eigenes Verschulden verkalkuliert hat und ein unabhängiger Treuhänder das genauso sieht. So etwas geschieht bei privaten Krankenversicherungen häufig, ist allerdings bei Kapitallebens- und privaten Rentenversicherungen unwahrscheinlich. Die Regel kam nicht einmal im Mannheimer-Fall zum Einsatz, denn hier geht es nicht um die Kapitalanlagen. Bei Tarifen, auf die sich das Gesetz bezieht, sind kurzfristige negative Überraschungen extrem selten.

Neben den bisher aufgeführten Eskalationsstufen steht im Versicherungsaufsichtsgesetz ein Paragraf, der alles toppt. Er erlaubt der Bafin, den Vorschlaghammer herauszuholen, wann immer es ihr sinnvoll erscheint (theoretisch sogar schon vor einem Eingreifen des Sicherungsfonds). Im äußersten Fall kann sie einen Versicherer endgültig zumachen, den Kunden alle Auszahlungen für immer streichen und weiterhin von ihnen Prämien verlangen. Auch alle Zwischenstufen sind möglich - zum Beispiel Auszahlungen nur vorübergehend und partiell zu reduzieren.

Beruhigend: Der Vorschlaghammer kam zumindest in der Nachkriegszeit noch nie zum Einsatz. Diese brachiale Option existiert im Prinzip seit Einführung des Gesetzes im Jahr 1901, damals noch in milderer Form: Die Auszahlungen durften laut Ursprungsfassung um lediglich ein Drittel gekürzt werden.

Die Bundesregierung bestätigte 2016 sogar die Zeitgemäßheit der aktuellen Regeln. Bei einer Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag vertrat sie die Auffassung, es sei "zweckmäßig, der Aufsichtsbehörde für den Fall einer drohenden Insolvenz eines Versicherungsunternehmens den größtmöglichen Handlungsspielraum zu geben".


Bild: Sonja Crispino, Julian Mezger für €URO [M]