Auch nach 50 Jahren im Job merkt man John Greenwood noch immer die Freude am Beruf an -bei den Fotos vor der großen Weltkarte mit den Invesco-Standorten genauso wie beim Interview im nüchternen Besprechungsraum der US-Fondsgesellschaft im europäischen Hauptquartier am vornehmen Londoner Portman Square. Das Besprechungszimmer "Lambeth" hat zwar keine Fenster, aber ein großes Whiteboard. Greenwood benutzt es gern. Mitunter bekommt ein Gespräch mit dem Chefökonomen der US-Fondsgesellschaft denn auch fast den Charakter einer volkswirtschaftlichen Vorlesung, etwa wenn er an der Tafel seine Vorstellung von wirksamer Geldpolitik oder vom Konjunkturzyklus der Schwellenländer illustriert.

Noch mehr Leidenschaft entwickelt Greenwood bei Fragen zum Brexit und zur Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Deren Politik ist aus seiner Sicht katastrophal und der Hauptgrund für die anhaltende Wachstumslethargie im Europa. Der Kampf gegen Deflation und schwaches Wachstum wird seiner Überzeugung nach noch lange andauern. Auch deshalb ist der Brite froh, wenn sein Land nach der Wahl am 12. Dezember aller Voraussicht nach zügig aus der EU aussteigt.

Neben der verfehlten EZB-Politik schaden nach Ansicht Greenwoods auch die hohen Zollschranken, mit denen die Union ihre Landwirte und Unternehmen schütze, damit jedoch letztendlich den europäischen Verbrauchern keinen Gefallen tue.

€uro am Sonntag: Nach der Wahl in Großbritannien dürfte ja nun ­tatsächlich der Brexit ­anstehen. Wird das Börsen und Wirtschaft belasten?
John Greenwod: Wenn es um den Brexit geht, denken die meisten Menschen viel zu emotional. Aber nüchtern betrachtet, ist der Brexit nicht die Katastrophe, die viele in ihm sehen - vor allem nicht aus ökonomischer Sicht.

Der Brexit bringt Europa und Großbritannien also keine Nachteile?
Ich erwarte in wirtschaftlicher Hinsicht keine größeren Auswirkungen. Die Verbraucherpreise werden möglicherweise etwas stärker schwanken in der nächsten Zeit, aber mittelfristig wird sich das normalisieren.

Waren, die Großbritannien heute vom Kontinent importiert, dürften aber doch schon aufgrund der Zölle teurer werden.
Nein. Als importierendes Land verhängt die EU Zölle auf Einfuhren in den "gemeinsamen Binnenmarkt". Wenn Großbritannien die EU erfolgreich verlässt und unsere Regierung eine Form der Freihandelspolitik verfolgt, wird es keine oder nur sehr wenige Zölle auf Importe nach Großbritannien geben. Die britischen Verbraucher werden damit in die Lage versetzt, Lebensmittel, Bekleidung, Schuhe und sogar Autos aus allen Ländern der Welt zum konkurrenzfähigsten Preis kaufen zu können, anstatt hohe EU-Preise zu zahlen. Dadurch wird der Brexit dem britischen Verbraucher spürbare Vorteile bringen. Ich schätze, dass eine Preissenkung um insgesamt sechs bis acht Prozent möglich ist.

Und britische Exporte?
Mein Land hat traditionell vom freien Handel profitiert. Aber als Großbritannien der EU beitrat, musste es die EU-Zölle übernehmen. Die EU ist eine hochgradig protek­tionistische Organisation mit hohen Zollschranken. Für britische Unternehmen, die in die EU exportieren, sieht die Situation ganz anders aus. Sie werden sich mit EU-Zöllen und von Brüssel auferlegten Vorschriften konfrontiert sehen. Aber das wird britische Industriesektoren dazu zwingen, auf globaler Ebene wettbewerbsfähiger zu werden. Mit ihren Zöllen schadet sich die EU selbst. Wenn europäische Importeure britische Luftfahrtelektronik, Arzneimittel oder Whisky zollfrei einkaufen wollen, werden sie sich um ein Freihandelsabkommen mit Großbritannien bemühen müssen. Das ist etwas, was Großbritannien schon immer anstrebt. Es ist besser, Gesetze zu haben, die dem Verbraucher nützen, als Gesetze, die ihn zu schützen versuchen.

Andererseits profitieren aber auch britische Unternehmen von den Zollschranken nach außen und vom gemeinsamen Markt der EU.
Es gibt nur innerhalb der EU freien Handel. Das ist zu wenig, die Welt besteht nicht nur aus der EU. Wer eine starke Wirtschaft will, braucht wettbewerbsfähige Unternehmen, die auch auf dem Weltmarkt bestehen können. Niedrigere Schutzwälle nach außen zwingen die Unternehmen dazu, wettbewerbsfähiger zu werden. Hohe Schutzwälle machen sie träge.

Dann freuen Sie sich auf den Brexit?
Ich bin sehr optimistisch. Aus ökonomischer Sicht ist der Brexit eine gute Sache für Großbritannien. Die positiven Wirkungen werden vielleicht nicht sofort spürbar sein, aber Schritt für Schritt wird sich die Struktur der britischen Wirtschaft verbessern - und wir alle werden davon profitieren. Australien und Neuseeland haben demonstriert, wie vorteilhaft es für ein Land ist, wenn es sich von seiner protektionistischen Politik verabschiedet.

Apropos Protektionismus: Wie gefährlich ist der Handelskrieg zwischen den USA und China?
Trump, der Handelsstreit, der Brexit: Das sind alles nur Wellen auf der Oberfläche der Flut. Die Gezeiten bestimmen Geldpolitik und die Verfassung von Unternehmen, Verbrauchern und des Finanzsektors. Die US-­Zentralbank Fed hat stabiles Wachstum bei niedriger Inflation ermöglicht. Solange wir diese Kombination aus guter Geldpolitik und gesunden Bilanzen haben, kann die Wirtschaft weiter wachsen.

Die sinkende Industrieproduktion deutet aber ein Ende des Booms an.
Keine Panik. Ich sehe keinen Grund, warum es nicht weiter aufwärts­gehen sollte. Ich teile auch nicht die Ansicht, dass wir uns bereits in einem sehr reifen Zyklus befinden, auch wenn wir in den USA gerade den längsten Aufschwung seit Beginn der Aufzeichnungen erleben. Meiner Meinung nach befinden wir uns nach wie vor in der Mitte des ­Zyklus, und die Expansion kann noch lange Zeit andauern.

Was macht Sie so optimistisch?
Die fundamentalen Treiber der Konjunktur sind intakt. Der private Sektor ist in guter Verfassung, und die Verschuldung ist heute viel nied­riger als vor der Finanzkrise. Der Dienstleistungssektor entwickelt sich sehr dynamisch. Da er in den USA gut 80 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmacht, kann sich die Wirtschaft insgesamt gut entwickeln. Der Aufschwung wird sich daher 2020 und wahrscheinlich darüber hinaus fortsetzen.

Aber das Gewinnwachstum geht schon jetzt bei den US-Unternehmen zurück.
Gewinne fluktuieren nun einmal. Zuletzt bremste unter anderem der starke Dollar. Wichtig ist aber: Langfristig tendieren Unternehmensgewinne dazu, etwas stärker zu wachsen als das Bruttoinlandsprodukt. Solange wir also intaktes Wirtschaftswachstum haben, werden sich die Unternehmensgewinne wieder erholen. Wie gesagt, ich erwarte einige weitere Jahre mit Wachstum. Das wird sich in den Gewinnerwartungen und in entsprechend steigenden Börsenkursen niederschlagen.

Die hohe Verschuldung der US-­Unternehmen beunruhigt Sie nicht?
Seit der Finanzkrise haben der US-­Finanzsektor und die privaten Haushalte massiv Schulden abgebaut. Bei den Unternehmen hat die Fremd­finanzierung zwar etwas zugenommen, die Erhöhung ihrer Schulden fällt aber angesichts des starken Schuldenabbaus in den anderen Sektoren nicht ins Gewicht. Insgesamt ist die Verschuldung des privaten Sektors in den USA von 296 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung auf 226 Prozent gesunken. Die Quote ist damit wieder auf den Stand von 2001 gefallen. Von diesem Standpunkt aus gesehen sind die USA heute weit weniger anfällig für eine Schuldenkrise als 2007.

War es richtig, dass die Fed erneut die Leitzinsen gesenkt hat?
Jeder spricht immer nur über den Leitzins, aber bei der Geldpolitik geht es nicht um Zinssätze. Entscheidend ist die Wachstumsrate von Geldmenge und Krediten. Dazu ist es manchmal nötig, die Leitzinsen zu erhöhen, zu anderen Zeitpunkten muss der Zinssatz dagegen gesenkt werden. Es wird jetzt keine weiteren Zinssenkungen geben, aber trotzdem bleibt die Geldpolitik der Fed expansiv. Das geht auch ohne Zinssenkungen.

Anleger sollten also nicht nur auf die Zinsschritte der Fed starren?
Exakt. Anleger sollten auf das breite Geldmengenwachstum achten. Bisher war es relativ gering und stabil. Ungefähr ab Mai hat sich das Wachstum jedoch rapide beschleunigt und liegt aktuell bei sieben oder acht Prozent. Das ist der Grund, warum wir an der Wall Street neue Höchststände sehen - es ist schlicht sehr viel Geld im System.

Bringen die EZB und die Bank of ­Japan mit ihrer Negativzinspolitik die Fed nicht in Zugzwang?
Da muss man sich zunächst einmal fragen: Ist die Politik der Europäer wirklich so expansiv? Meiner Einschätzung nach ist sie das nicht. Die Geldmenge M3 wuchs in Europa in den vergangenen Jahren mit durchschnittlich dreieinhalb Prozent. Das ist viel zu niedrig. Europa braucht ein doppelt so hohes Geldmengenwachstum.

Die EZB wird die Zinsen wohl noch weiter senken. Ist das keine ­expansive Geldpolitik?
Die Zinssätze sind sehr niedrig oder negativ, das stimmt. Die Zinsen sind aber irrelevant. Schauen Sie nur einmal nach Japan oder in die Schweiz. In Japan liegt der Zins seit 20 Jahren bei null. Doch wächst dort die Geldmenge? Eben nicht. Es gibt sogar Deflation. Monetäre Steuerung bezieht sich auf das Wachstum der Geldmenge. Darauf müssten sich die Zentralbanken konzentrieren.

Die EZB macht keine gute Arbeit?
Die EZB-Politik ist katastrophal. Die EZB macht zwei gravierende Fehler: Zum einen richtet sie ihr Quantitative Easing an die falschen Empfänger, zum anderen schaden negative Zinssätze massiv den Sparern. Sie verursachen zudem große Probleme für kleinere regionale Banken, die durch schrumpfende Nettozins­margen zunehmend aus dem Geschäft getrieben werden. Auch Versicherungen geraten unter Druck. Zusätzlich werden sie durch sinnlose Regulierungen belastet: Sie müssen viele Staatsanleihen halten, aber deren Renditen sind bei null.

Was sollte die EZB tun?
Die EZB muss das Geldmengenwachstum beschleunigen. Dadurch würden nominales BIP und Inflation steigen, ohne die Sparer zu schädigen. Die Zinssätze reagieren dann entsprechend der erwarteten Inflationsrate. Um diese Strategie umzusetzen, könnte die EZB Anleihen von Nichtbanken kaufen, so wie es auch die Fed und die Bank of England tun. Die EZB kauft aber die Anleihen bisher fast ausschließlich den Banken ab. Das ist ein Fehler.

Warum ist das falsch?
Auf diese Weise wird kein Geld geschaffen. Es handelt sich lediglich um einen Tausch. Es ist daher kein Zufall, dass wir sowohl in Japan als auch in Europa negative Zinssätze haben. Beide Zentralbanken glauben fälschlicherweise, dass sie ­expansive Geldpolitik betreiben, wenn sie die Zinssätze nach unten drücken. Aber mit dieser Politik vernichten sie nur die Ersparnisse der Bevölkerung und schädigen die auf langfristiges Sparen ausgerichteten Vorsorgesysteme.

Niedrige Zinsen bringen also nicht mehr Wachstum?
Mit der richtigen monetären Politik könnte das Wirtschaftswachstum in Europa viel dynamischer sein. Die falsche Geldpolitik der EZB ist der Grund für die Schwäche der europäischen Wirtschaft: Ohne Geldmengenwachstum bleiben die Verbraucherausgaben niedrig und die Arbeitslosigkeit höher, als sie sein müsste. Die Bilanzsumme der europäischen Banken ist im letzten Jahrzehnt nicht gewachsen. Es kann aber kein Wirtschaftswachstum geben, wenn das Finanzsystem nicht wächst.

Die neue Chefin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, fordert mehr staatliche Investitionen. Hat sie recht?
Fiskalpolitik wird absolut nichts bewirken. Fiskalpolitik kann nur dann wirklich expansiv sein, wenn das Geld dafür von der Zentralbank gedruckt wird. Genau das aber tut die EZB nicht. Finanzierung der Staatsausgaben über höhere Steuern führt nur zu einem Transfer von den Privaten zum Staat. Finanzierung über Kreditaufnahme führt zum Crowding-out. Höhere Staatsausgaben werden daher das europäische Wachstumsproblem nicht lösen.

Was bedeutet das für die Finanzmärkte?
Wir werden auch in den kommenden Jahren schleppendes Wachstum in Europa sehen. Das bedeutet auch, dass die Aktienmärkte i n den USA und Europa immer weiter auseinanderdriften. Klar, europäische Aktien sind heute viel niedriger bewertet als US-Aktien. Das klingt verlockend. Doch die niedrige Bewertung hat ­ihren Grund - und daran wird sich nichts ändern, solange die Wachstumsaussichten bescheiden bleiben und Deflation ein Risiko darstellt.

Welche Investments empfehlen Sie Anlegern in diesem Umfeld?
Solange sich einige große Volkswirtschaften wie die USA in einer Expansionsphase befinden, sind riskantere Anlagen wie Aktien oder Immobilien die attraktivsten Anlageklassen. Sobald die Inflation anzieht, sollten Anleger auf Cash umsteigen. Während eines Abschwungs oder zu Beginn eines Aufschwungs ist es dagegen vorteilhaft, Anleihen zu halten, da die Zinssätze fallen. Grundsätzlich empfiehlt es sich je nach Zeitpunkt im Konjunktur­zyklus, von Anleihen über Aktien zu Cash und dann wieder zu Anleihen zu wechseln.

Nach dieser Logik sind Anleihen also nicht attraktiv?
Derzeit würde ich dazu raten, US-­Anleihen zu verkaufen. Warum? Weil sich die US-Wirtschaft weiter erholen wird und die Renditen in den nächsten sechs bis neun Monaten steigen werden. Riskantere Anlageklassen wie Aktien werden daher deutlich besser abschneiden.

Vita

Lange Karriere
Der britische Ökonom John Greenwood ist Chefvolkswirt der US-Fondsgesellschaft ­Invesco in London. Greenwood begann seine Karriere 1970 bei der Bank of Japan und war anschließend zwei Jahrzehnte lang in der früheren britischen Kron­kolonie Hongkong tätig, unter anderem als Direktor der Hong Kong Futures Exchange Clearing Corporation, als Ratsmitglied der Börse Hongkong und als Wirtschaftsberater der Regierung von Hongkong. Seit 1998 ist Greenwood bei Invesco, gehört daneben jedoch auch dem Schattenkabinett der Bank of England an.