Bedingt Gefechtsbereit: Der Krieg, den Russland in der Ukraine führt, macht Europas Schwächen evident. Die Regierungen in Paris, Rom und Berlin müssen mutiger werden. Das Geschäft der Rüstungsbranche zieht an.

Die Lücke ist gewaltig, der Zeitdruck hoch, die systemische Trägheit besorgniserregend. Russlands Krieg in der Ukraine  macht es deutlich: Europa hat in 30 Jahren rund 1800 Milliarden Euro zu wenig in militärische Verteidigung investiert, schätzt das Münchner Wirtschaftsinstitut Ifo. „Nun sind viele Jahre mit deutlich höheren Rüstungsausgaben notwendig, um die Fähigkeit zur Verteidigung nachhaltig zu verbessern“, erklärt das Team von JP Morgan-Analyst David Perry den sogenannten „Catch up trade“ in den Verteidigungsbudgets der europäischen Staaten. Die Folgen der „Friedensdividende“ (alles, worauf die Regierungen während der letzten 30 Jahre bei Rüstung und Militär verzichtet haben), gemessen am aktuellen Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung eines Landes für das Rüstungsbudget, sind überall spürbar. Bei Kampfjets, Panzern, U-Booten und Schiffen wurden die Bestände drastisch reduziert, die Wartung vernachlässigt, einige Lieferketten aufgelöst oder stillgelegt.

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Rüstung Investitionsdefizit zwischen 1992 und 2022

"Wir Europäer müssen deutlich mehr tun für die Ukraine" Anton Hofreiter (Grüne)

Russlands Aggression, inzwischen ein Abnutzungskrieg (massive Zerstörungen, hoher Materialverschleiß, sehr viele menschliche Opfer), „ein ausdauernder Krieg an Land“, sei etwas, was die NATO auch während des Kalten Kriegs nicht auf dem Schirm hatte, sagt Politikwissenschaftler Trevor Taylor mit langjähriger Erfahrung in Verteidigungspolitik. Der 78-jährige Brite leitet die Forschungsgruppe Defence, Industries and Society des Royal United Services Institute for ­Defence and Security Studies. Währenddessen konnte Europa wegen Ineffizienz und systemischer Trägheit selbst bei Artilleriemunition das Versprechen gegenüber der Ukraine nicht einhalten. Eine Million Granaten sollten bis Ende März geliefert werden, tatsächlich war es ein Drittel. Der Zeitdruck, Russland zu stoppen, ist enorm. Zwar hat der US-Senat Amerikas Rüstungslieferungen an die Ukraine nun freigegeben, die Amerikaner aus ihren Beständen in Europa innerhalb weniger Tage liefern, nun muss aber auch Europa mehr und schneller liefern. "Es kann sein, dass es für lange Zeit das vorerst letzte US-Hilfspaket ist, oder übehaupt das letzte. Das heißt, wir Europäer müssen deutlich mehr tun für die Ukraine", fordert Anton Hofreiter  (Grüne). Europas Rüstungsbudget für 2023, geschätzte 360 Milliarden Euro, ist zwar wieder auf einem höheren Niveau als während des Kalten Kriegs, die Summe beträgt jedoch nur ein gutes Fünftel des Versäumten. Paris, Rom und Berlin zaudern weiter. Deutschland müsste jährlich 80 Milliarden Euro in die Verteidigung investieren, um das Ziel von zwei Prozent des BIP einzuhalten, jährlich eingeplant sind bis 2028 52 Milliarden.

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Investitionsdefizit in der Rüstung - von 1992 bis 2022

Die Investitionslücke bis bis dann wird auf bis zu 350 Milliarden geschätzt. „Wenn für unsere Regierung Worte wie Verteidigungsfähigkeit, Schutz oder Wehrhaftigkeit nicht bloße Worthülsen sein sollen, muss Bundeskanzler ­Scholz seine Richtlinienkompetenz wahrnehmen und ein Machtwort sprechen“, fordert nun der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, Oberst André Wüstner. Der Panzergrenadier kämpfte sowohl im Kosovo als auch in Afghanistan. Deutschlands Rüstungs­industrie werde den dringenden Ausbau ihrer Kapazitäten nicht fortsetzen, wenn das Sondervermögen Ende 2024 verplant sei, ohne dass der weitere Kurs erkennbar sei, warnt Wüstner. Das wäre ein Drama, auch, da Länder im Baltikum, in Skandinavien und in Osteuropa der Ukraine, gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung, deutlich mehr helfen als große EU-Länder. Die größten Rüstungsfirmen und Entwickler von Raketen und Panzern sind jedoch in Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland. Russlands Krieg festigt zumindest die Bande der Europäer. Im März trainierten in Norwegen 20 000 Soldaten aus 13 Ländern beim Manöver „Nordic Res­ponse“. Ein Bataillon der Bundeswehr, 4800 Soldaten, ist ab 2027 in Litauen stationiert.

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Krieg in der Ukraine, finanzielle Hilfen der EU-Länder

Europas Rüstungsfirmen sind gut in Fahrt

Europas Rüstungsindustrie ist trotz der zaudernden Regierungen gut in Schwung. Der seit Februar börsennotierte Augsbur­ger Hersteller von Panzergetrieben Renk mit 1,2 Milliarden Euro geschätztem Umsatz für 2024 ist mit einen Rekordauftragsbestand von 4,6 Milliarden Euro ins Jahr gestartet. Mit 342 Millionen Euro bei 926 Millionen Euro Umsatz verdienten die  Schwaben doppelt so viel wie im Vorjahr. Renk-Chefin Susanne Wiegand hofft, dass „der weltweit hohe Bedarf und die Rückkehr zu einer Vollauslastung der Streitkräfte“ Wachstumstreiber bleiben. Der Düsseldorfer Riese Rheinmetall hat seine jährliche Produktion von Artilleriegranaten, Kaliber 155 Millimeter, in drei Jahren auf 700 000 verzehnfacht, 2027 sollen es 1,1 Millionen Stück pro Jahr sein. Damit würde Rheinmetall weltweit an die Spitze rücken. Der spanische ­Munitionsproduzent Expal wurde 2023 übernommen, parallel wird viel in Kapazitäten investiert. Munition soll mittelfristig 3,5 Milliarden Euro Umsatz liefern. Das sind knapp die Hälfte der Gesamterlöse für 2023. Zu Jahresbeginn lag der Gesamtauftragsbestand bei über 38 Milliarden Euro, bei knapp zehn Milliarden geschätztem Umsatz für 2024. Für das Jahr werden Bundeswehraufträge im Wert von 30 Milliarden Euro erwartet, eine Verdreifachung gegenüber 2023.

Trotz der erhöhten Munitionsproduktion bleibt es schwierig, die Ukraine rechtzeitig zu beliefern. Tschechien kann erst ab Juni aus Beständen vieler Länder 300 000 Granaten liefern, finanziert von Deutschland und den Niederlanden, insgesamt 800 000 sollen beschafft werden. Die bei Konzernen bestellten über 600 000 Stück sind im Herbst verfügbar. Wie Europas Rüstungsindustrie funktionieren sollte, um die Wehrhaftigkeit langfristig auch ohne große Unterstützung Amerikas zu gewährleisten, zeigt Matra BAe Dynamics Aérospatiale, kurz MBDA. Die Firma entwickelt Raketensysteme, unter anderem auch die Marschflugkörper Taurus für Deutschland und Schweden sowie Storm Shadow für Großbritannien und Scalp für Frankreich. An dem paneuropäisch aufgebauten Konzern, der zwischen 1996 und 2001 geformt wurde und 2006 sowie 2010 Präsenzen in Deutschland und Spanien aufbaute, halten Airbus und die britische BAE Systems jeweils 37,5 Prozent, Leonardo aus Italien 25 Prozent.

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Marschflugkörper Storm Shadow

Die Komponenten werden von verschiedenen Spezialisten geliefert. Bei Taurus liefert Saab in Schweden das Turbofan-Triebwerk, die deutsche MBDA-Tochter TDW den Mephisto Gefechtskopf mit einem programmierbaren Zünder. Zwei Komponenten, die den Unterschied zwischen Taurus und Storm Shadow sowie Scalp ausmachen: eine größere Reichweite und mit Mephisto die Fähigkeit, bis zur finalen, großen Explosion mehrere Schichten Beton zu durchbrechen. Taurus-Raketen könnten die Krim-Brücke schwer beschädigen. Allerdings wurde keine der produzierten Taurus eingesetzt. Die Bundeswehr soll über 600 verfügen. Die Fertigung einer Rakete soll jedoch zwei Jahre dauern. Die Produktion ruht. Storm Shadows und Scalps hat die Ukraine 2023 erfolgreich eingesetzt. Wie viele aus den geschätzten Arsenalen, 850 in Großbritannien, 460 in Frankreich, der Ukraine geliefert wurden, ist nicht bekannt. Ihre Produktion läuft jedoch auf Sparflamme, eine Diskrepanz zu großen Worten aus London und Paris.

Hersteller MBDA ist mit seinem Portfolio, das ein Patriot-ähnliche Abwehrsystem mit Luft-Luft-Raketen einschließt, technologisch auf Augenhöhe mit den größeren US-Konkurrenten Lockheed Martin und Raytheon Technologies, sagen Experten. Airbus und MBDA sind in Europa Ausnahmen für große Konzerne, die erfolgreich sind, weil es dem Management gelingt, nationale Interessen einzubinden und kontraproduktive Rivalität zu entschärfen. Möglich sei das bei MBDA auch, weil es keine Beteiligung der Länder gebe, heißt es. Europa braucht solche Kooperationen, um sich mit eigenen Technologien verteidigen zu können. Mit zwei ETFs auf die Branche HANetf Future of Defence (WKN A3E B9T) und VanEck Defence (WKN A3D 9M1) sind Anleger bei den Entwicklungen dabei.

Eine Konsolidierung durch Übernahmen, wie von Experten gefordert, um die komplexen Waffensysteme schneller und günstiger zu entwickeln, dürfte schwieriger sein. Auch das liegt an nationalen Interessen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Deutschlands mit ihren großen Konzernen. Allerdings könnten die Großen mehr Spezialisten übernehmen. Mögliche Konsolidierer und große Auftragssammler sind Rheinmetall, in Frankreich Thales mit rund 20 Milliarden Euro und der Familienkonzern Dassault Aviation mit sechs Milliarden Euro Erlös, in Großbritannien BAE Systems mit mehr als 32 Milliarden Euro für 2024 und Leonardo in Italien mit fast 17 Milliarden Euro Umsatz. Der Konzern hält, genauso wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), knapp 23 Prozent am Radarspezialisten Hensoldt.

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