Über Jahrtausende hatten Menschen versucht, Herausforderungen mithilfe der stoischen Lehre zu meistern und in Chancen umzuwandeln. Prominente Anhänger der Stoa waren Friedrich der Große, George Washington und Adam Smith. Selbst Bill Clinton befasst sich gern mit den Schriften der Stoiker, ebenso der ehemalige chinesische Premierminister Wen Jiabao.

Was macht Senecas Ratschläge so attraktiv, die Denkschule jenes Philosophen also, der einer der reichsten und mächtigsten Männer des Imperium Romanum war? Es sind keine abgehobenen und schwer verständlichen philosophischen Erläute- rungen, sondern handfeste Gebrauchsanweisungen für das Alltagsleben.

Tom Morris, der 15 Jahre als Professor an der renommierten University of Notre Dame lehrte, hatte Seneca und die Stoiker bereits um die Jahrtausendwende als Wegweiser für Amerikas Manager propagiert. Die Liste der Unternehmen, die er in der Zwischenzeit beriet, liest sich wie das Who’s who der globalen Wirtschaft. Sie reicht von Autoherstellern wie Ford, Toyota oder General Motors bis zu Großunternehmen wie Goldman Sachs, IBM, Bayer oder Coca-Cola.

Den Aktienhändlern von Merrill Lynch hat Morris die neu entdeckten, 2000 Jahre alten Ideen der Stoiker bereits über 30- mal verkündet. Er konnte ihnen zwar kei- ne heißen Börsentipps geben, aber er konnte ihnen zeigen, wie man mit Einsicht, Ruhe und Gelassenheit auf Turbulenzen an den Aktienmärkten reagiert und es vermeidet, zum Spielball von Emotionen wie Angst oder Gier oder von Enthusiasmus und Überschwang zu werden. An etwas zu hängen, was einem das Schicksal jederzeit entreißen könne, verspreche kein stabiles Glück. Schon die Sorge um den Verlust bedrohe den Seelenfrieden.

Er rät seinen Kunden, sie sollten unterscheiden zwischen Dingen, die sie beeinflussen können, und Dingen, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Es gebe sieben universelle Bedingungen für einen anhaltenden, erfüllenden Erfolg, sagt Tom Morris. Zufällig fingen sie alle mit "C" an, zumindest im Englischen und Lateinischen (siehe Box rechts oben).

Morris’ Faszination für die Stoiker hatte begonnen, als er Senecas Briefe an seinen jungen Freund Lucilius las, in den Jahren 48 und 49 n. Chr. geschrieben. "Ich konnte nicht genug davon bekommen. Seneca sagte erstaunliche Dinge auf unvergessliche Weise. Zum Beispiel: ‚Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.‘ Oder: ‚Die Liebe zu unaufhörlicher Aktivität ist nicht Fleiß - es ist nur die Unruhe eines getriebenen Geistes.‘ Besonders betroffen gemacht hat mich der Spruch: ‚Dein größtes Problem liegt in dir selbst. Du bist dein größtes Hindernis. Du weißt nicht, was du willst. Du bist besser darin, den richtigen Kurs zu erkennen, als ihm zu folgen. Du siehst, wo wahres Glück liegt, aber du hast nicht den Mut dazu.‘"

Morris erkannte, dass gerade Manager und Investoren in schwierigen Zeiten Bedarf haben an den Weisheiten eines Seneca.

Lucius Annaeus Seneca wurde etwa im Jahr 1 n. Chr. im spanischen Corduba als Sohn einer wohlhabenden Familie mit glänzenden Beziehungen zu den herrschenden Kreisen geboren. Bereits als Kind kam er nach Rom, wo er eine klassische Ausbildung in Grammatik, Rhetorik und Rechtskunde genoss. Er interessierte sich früh für Philosophie, litt unter Asthma und chronischer Bronchitis und verbrachte einige Zeit im ägyptischen Alexandria, von dessen gutem Klima er sich gesundheitliche Besserung erhoffte.

Nach seiner Rückkehr wurde er zum Quästor (niedrigstes Amt in der römischen Ämterlaufbahn) ernannt, im Jahr 39 bereits zum Senator. Im Jahr 41 wurde Seneca des Ehebruchs mit einer der Schwestern des Kaisers Caligula angeklagt und musste acht Jahre im Exil auf Korsika verbringen. Eine andere Schwester Caligulas, Agrippina, holte ihn dann nach Rom zurück, wo er an den kaiserlichen Hof kam und die Rolle des Erziehers von Agrippinas Sohn Nero übernahm.

Asketisches Leben

Seneca, ein kleiner, stämmiger und kahlköpfiger Mann mit sehr dunklen Augen und einem Spitzbart, wurde nun Teil des römischen Machtzirkels. Er war nach dem Kaiser der mächtigste Mann im Römischen Reich. Er galt als elegant, charmant und witzig und wurde einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit und einer der reichsten Männer im Römischen Reich. Man schätzt sein Vermögen auf 300 Millionen Sesterzen. Das entspricht, wenn man die Lebenshaltungskosten als Vergleich heranzieht, mindestens 300 Millionen Euro.

Für den Lifestyle am kaiserlichen Hof hatte er nur Verachtung übrig: "Den einen hält unersättliche Habsucht gefangen, ein anderer verausgabt seine Geschäftigkeit in überflüssigen Anstrengungen, der eine ist vom Wein trunken, der andere verkümmert durch Faulheit. Viele sind der Schönheit einer anderen Person oder der Besorgnis um die eigene verfallen. Sehr viele, die kein bestimmtes Ziel verfolgen, hat die haltlose, unbeständige und sich selbst missfallende Liederlichkeit zu ständig wechselnden Vorhaben getrieben."

Seneca dagegen lebte wie ein Asket. Er schlief auf einem harten Brett, trank keinen Wein, aß kein Fleisch, mied bestimmte Lebensmittel wie Austern oder Pilze, nahm keine heißen Bäder. Jeden Abend betrieb er Gewissensforschung und bewertete bei einer Rekapitulation alle seine Handlungen an dem jeweiligen Tag.

Seine Rolle als Berater des eigensüchtigen Kaisers Nero, der immer mehr zu Unbeherrschtheit und Ausschweifungen neigte, wurde schließlich so heikel, dass er ihn um Entlassung aus dem Staatsdienst bat. Nero lehnte ab, verurteilte ihn aber später zur Selbsttötung, weil er ihn - wohl zu Unrecht - verdächtigte, in eine Verschwörung verwickelt zu sein.

Seneca war dem Reichtum und dem materiellen Erfolg nicht abgeneigt. In einem Brief an Lucilius bestritt er, dass es einen Widerspruch zwischen der stoischen Lehre und dem persönlichen Reichtum gebe. Der Weise könne die angenehmen Dinge durchaus genießen, müsse allerdings fähig sein, materielle Güter aufzugeben, und dürfe sich nicht zu ihrem Sklaven machen.

Eines seiner wichtigsten Werke, "De bre- vitate vitae" ("Von der Kürze des Lebens"), beschäftigt sich mit dem Umgang des Menschen mit der Zeit. "Nur einen kleinen Teil des Lebens leben wir. Die ganze übrige Dauer ist ja nicht Leben, sondern bloß Zeit", schrieb er an Lucilius. "Jeder überstürzt sein Leben und leidet an der Sehnsucht nach dem Kommenden. Der hingegen, der jeden Augenblick zu seinem Nutzen verwendet, der jeden Tag so einteilt, als wäre er sein Leben, sehnt sich nicht nach dem folgenden Tag und fürchtet sich nicht davor."