Erstmals seit Monaten geht in der Eurozone die Inflation leicht zurück. Das weckt Erwartungen an einen moderateren Zinskurs der EZB. Die US-Notenbank geht schon vom Gas. Welche Aktien profitieren. Von Wolfgang Ehrensberger
Wenn die Währungshüter der Europäischen Zentralbank (EZB) auf ihrer nächsten Sitzung am 16. Dezember zusammentreffen, wird es spannend. Denn erstmals seit Mitte 2021 ist die Inflationsrate im Euroraum im November wie der gesunken — auf 10,0 Prozent von 10,6 Prozent im Oktober, wie das Statistikamt Eurostat jetzt mitteilte.
Damit bleibt die Inflationsrate zwar weiterhin hoch, und eine echte Trendwende bei der Teuerung liegt noch in weiter Ferne. Doch zumindest dürfte dieses neue Preissignal jenen Ratsmitgliedern Rückenwind geben, die für einen moderateren Zinsanhebungskurs der Notenbank plädieren, die also eine Anhebung von 0,5 statt 0,75 Prozent punkten für richtig halten.
"Musik in den Ohren der Anleger"
Auf ihren Sitzungen im September und Oktober hatten die Währungshüter jeweils große Zinsschritte von 0,75 Prozent punkten beschlossen, um die stark angestiegenen Inflationsraten in den Griff zu bekommen. Auch an den Börsen sorgten die jüngsten Inflationszahlen bereits für Auftrieb: „Die Zahlen zum Verbraucherpreisindex in der Eurozone haben sich verbessert, und das ist sicherlich Musik in den Ohren der Anleger“, sagte Analyst Naeem Aslam der Nachrichtenagentur Reuters.
Das Zinssignal der Fed lässt Anleger hoffen
Musik in den Ohren der Anleger waren auch die neuen Töne, die Jerome Powell am Mittwoch in Washington anschlug. Der Chef der US-Notenbank Fed signalisierte erstmals eine moderatere Gangart bei den Zinsanhebungen. Bereits auf der nächsten Sitzung der Währungshüter am 14. Dezember könne die Zeit gekommen sein, Tempo bei den Zinsanhebungen herauszunehmen, sagte Powell. Hintergrund: Anders als in Europa ist in den USA die Inflationsrate bereits den vierten Monat in Folge zurückgegangen. Noch Anfang November hatte die Fed den Leitzins zum vierten Mal um 0,75 Prozentpunkte erhöht. Inzwischen rechnen die meisten Marktteilnehmer damit, dass sie auf der Dezember-Sitzung einen Zinsschritt von 0,5 Prozentpunkten beschließen wird. Powell machte allerdings auch klar, dass der Kampf gegen die Inflation noch nicht beendet sei und die Zinspolitik weiter restriktiv bleibe. „Die Inflation ist noch immer viel zu hoch“, sagte er. Letztendlich müsse die Fed den Leitzins womöglich sogar noch auf ein höheres Niveau treiben als in ihrer September-Sitzung projiziert, warnte Powell. Damit würde die Fed das Tempo der Zinsanhebungen zwar verlangsamen, die Zügel am Ende aber noch strenger anziehen als bisher erwartet. Dennoch hat die Ankündigung ein Kursfeuerwerk an der Wall Street ausgelöst. Der S&P 500 legte um 3,1 Prozent zu, der Nasdaq um 4,4 Prozent. Zu den Gewinnern zählten vor allem Tech-Werte wie Microsoft, Netflix und Nvidia, die um bis zu neun Prozent zulegen konnten. Die zinssensiblen Tech-Firmen haben unter der restriktiven Geldpolitik besonders gelitten und profitieren vom moderateren Zinskurs.
Die Zwickmühle der EZB
Unterdessen ist auch bei der EZB eine weniger restriktive Geldpolitik keineswegs ausgemacht. Denn die neuen Inflationsdaten liefern auch den geldpolitischen Hardlinern Argumente für einen weiter aggressiven Kurs. Zum einen besteht bei einem Inflationsniveau von zehn Prozent weiterhin die Gefahr, dass die Inflationserwartungen außer Kontrolle geraten und eine Lohn-Preis-Spirale in Gang kommt. Zum anderen verharrte die sogenannte Kernrate, also ohne die schwankungsanfälligen Preise für Energie und Lebensmittel, auf ihrem Rekordhoch von fünf Prozent. „Im kommenden Jahr dürfte der unterliegende Preisdruck hartnäckig hoch bleiben“, erläutert Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. „Das Inflationsproblem des Euroraums ist noch lange nicht gelöst. Dafür sprechen die massiv gestiegenen Inflationserwartungen sowie die anziehenden Lohnabschlüsse“.
Dieser Text erschien zuerst in Euro am Sonntag 48/2022. Hier erhalten Sie einen Einblick ins Heft.