Kurz hinter Hsinchu - die Hauptstadt Taipeh ist nicht mehr weit - hat der Zug 280 Sachen drauf. Trotzdem ruckelt nichts, man sitzt bequem. Jeweils drei Sitze gibt es links vom Gang, drei rechts. Ganz entspannt sieht der Passagier, wie die Landschaft vorbeifliegt. Reisfelder, Industriegebiete, Wälder, Städte. 345 Kilometer misst die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen der 2,6 Millionen Einwohner zählenden Metropole Taipeh und der im Süden gelegenen Hafenstadt Kaohsiung, die mit 2,8 Millionen Bewohnern im Stadtgebiet sogar größer ist als die Hauptstadt.

Der Zug, HSR genannt, was für High Speed Rail steht, wurde von der Taiwan Shinkansen Group gebaut, einem Ableger der japanischen Shinkansen Group. Der HSR fährt die Strecke in nur 96 Minuten, mit Zwischenhalten in Banqiao und Taichung. Die beiden Städte zählen ebenfalls zu den wichtigsten Industriezentren des Landes. Eine etwas langsamere HSR-Variante mit vier zusätzlichen Stopps braucht kaum länger - zwei Stunden. Auch ohne Ruckeln.

Der HSR fährt da entlang, wo das Wirtschaftsleben Taiwans in vollem Gang ist: an der Westküste. Andere Möglichkeiten gibt es schlicht auch nicht. Denn Richtung Osten wird es schnell alpin: Das Zentralgebirge, gespickt mit mehr als 40 Dreitausendern, erstreckt sich entlang der Ostküste beinahe von der Nordspitze der Insel bis zu ihrer Südspitze.



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Der Festlandchinese kommt im Bus



Die Inselbewohner nennen das gern und passend die "Schweiz Taiwans". Ein riesiges Erholungsgebiet für gestresste Taiwaner, von denen manche auf Rennrädern der einheimischen Marke Giant - nebenbei der größte Bikehersteller der Welt - die Gipfel erklimmen. Zu ihnen gesellen sich europäische Individualreisende und immer mehr Chinesen vom Festland, die in Reisebussen von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit gekarrt werden: zum Taroko-Nationalpark, zum Sonne-Mond-See, zu den heißen Quellen, deren schwefelhaltiges Wasser so herrlich entspannt. Malerisch ist es da, in den Bergen, was portugiesische Seefahrer vermutlich zu der früheren Bezeichnung für die Insel inspiriert hat: Formosa, die Schöne.

Das ist lange her. Wie auch die Zeiten, als Niederländer und Japaner die Insel kolonialisierten. Erst der millionenfache Zuzug von Festlandchinesen unter Führung des Generals Chiang Kai-shek nach dem Chinesischen Bürgerkrieg von 1949 legte den Grundstein für das moderne Taiwan.

Es dauerte jedoch bis Ende der 80er-Jahre, bis die autokratische Regierungspartei Kuomintang eine allmähliche Demokratisierung zuließ. Doch seither vollzieht sich der Wandel ebenso schnell wie offensichtlich. Die Zeiten, als "Made in Taiwan" vor allem in den 80er-Jahren für Billigprodukte aller Art stand, als das Land noch "Werkbank der Welt" war, bevor dieses Etikett dem großen Nachbarn, der Volksrepublik China, angeheftet wurde, sind längst vorbei.

Taiwan ist in der Wertschöpfungskette weit nach oben gerutscht. Ohne Taiwan kein Smartphone, kein Tablet, keine mobile Kommunikation so, wie wir sie kennen. Die Lieferkette von Apple etwa liest sich wie das "Who’s who" der taiwanischen Industrie: Da wäre Taiwan Semiconductor Manufacturing, nach Intel und Samsung der weltweit drittgrößte Halbleiterhersteller, oder Hon Hai Precision - bekannt auch unter dem Namen Foxconn -, einer der größten Fertigungsbetriebe für elektronische Produkte weltweit, oder Largan Precision, ein bedeutender Hersteller für Displays und Kameralinsen.

Diese technologische Vorreiterrolle will das Land verteidigen. Dass fast die ganze Insel mit kostenlosem WLAN für jedermann versorgt wird, spricht dafür. Ebenso die Ausgaben für Forschung und Entwicklung: Da liegt Taiwan weltweit auf Rang 6 - vor Deutschland, vor den USA, und nur knapp hinter den Nachbarstaaten und Konkurrenten Japan und Südkorea.

Der Inselstaat ist so etwas wie das Bindeglied zwischen den in der westlichen Welt, Japan und Südkorea angesiedelten Elektronikunternehmen mit ihrer Marketingmaschinerie und der wenig glamourösen Produktion, die dann meist in den Fabrikhallen des großen Nachbarn, in der Volksrepublik China, stattfindet.

"Ausgedacht in Kalifornien, zusammengestellt in Taiwan, gebaut in China" könnte es bei Apple etwa heißen. Die Verbindungen der Insel, die in puncto Lebensstandard mit Südkorea oder Japan vergleichbar ist, sind über das Südchinesische Meer hinweg deshalb so eng wie zahlreich. Es erscheint daher wie ein Treppenwitz der Geschichte, dass Taiwan als eigenständiger Staat international immer noch nicht anerkannt ist und mit einer Art Wirtschaftssonderstatus leben muss. "Ein-China-Politik" nennt sich das. Und das "echte" China ist im diplomatischen Sinn die Volksrepublik. Und diese sieht Taiwan als abtrünnige Provinz. Wer will sich da mit Peking anlegen?

Doch vielleicht tut sich jetzt was. Zum ersten Mal seit 1949, seit dem Ende des blutigen Bürgerkriegs und der Abspaltung der Taiwan-Chinesen, trafen sich am 7. November die Staatschefs von Taiwan und der Volksrepublik China. Die Präsidenten Xi Jinping und Ma Ying Jeou schüttelten einander die Hand, winkten den Pressevertretern zu und verschwanden in einem Hotel - auf neutralem Boden in Singapur. Politisches Tauwetter, wie es scheint. Was besprochen wurde, blieb geheim. Vielleicht Reiseerleichterungen zwischen den Ländern? Oder das Problem, dass manche Festlandchinesen sich beim Taiwan-Trip absetzen - im Landesjargon "jumping off the bus" genannt? Letztlich sind die Gespräche eine logische Entwicklung, denn die Wirtschaft beider Staaten ist seit vielen Jahren eng verbunden. Vor derlei Realitäten kann sich nicht mal Peking verschließen.

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Der Taiwaner will Taiwaner bleiben



Dass es irgendwann zu einem Zusammenschluss der Länder kommt, scheint aber sehr fraglich. Nach einer aktuellen Umfrage fühlt sich eine Dreiviertelmehrheit der Taiwaner eben auch als Taiwaner und nicht als Chinese. Man will selbstständig bleiben auf der Insel. Bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen im Januar scheint es passenderweise zu einem politischen Kurswechsel zu kommen: noch nationalistischer als bisher.

Trotzdem wurden manche angesichts des Treffens auf höchster politischer Ebene geradezu euphorisch: Morris Chang, Gründer und Chef von Taiwan Semiconductor Manufacturing, bot sogar Teile seines Unternehmens potenziellen chinesischen Investoren zum Kauf an. Mit einer Einschränkung jedoch: "If the price is right."

Schließlich hängt die Insel sehr vom großen Nachbarn ab. Und wenn es nicht vorangeht, bekommt die Exportnation Taiwan das zu spüren. Technologieführerschaft und WLAN für alle hin oder her - wenn China zu kämpfen hat, dann merkt man das auf der Insel. So gingen Taiwans Ausfuhren im dritten Quartal um 13 Prozent zurück. Die meisten wegen China. Doch das scheint nur eine Wachstumsdelle zu sein. Fürs kommende Jahr wird wieder ein steigendes Wirtschafts- und Exportwachstum erwartet. In den Industriezentren im Westen der Insel, die der HSR so fix verbindet, bleibt das Wirtschaftsleben in vollem Gang.



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