Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier hat jüngst zugegeben, dass in Sachen Klimapolitik "in den letzten Jahren auch Fehler gemacht und zu spät gehandelt wurde". Die aktuellen Nachrichten von Hitzerekorden in der Arktis, von Dürren in Europa und von brennenden Steppen in Sibirien passen zu dieser (späten) Einsicht. Corona hat diese Probleme aber vorläufig in den Hintergrund gedrängt.

Die Professorin Claudia Kemfert zählt zu den führenden deutschen Klimaexperten und plädiert seit Jahren für mehr Umweltschutz und eine nachhaltige Energiegewinnung. Sie erklärt, welche Schwächen die Corona-Krise aufzeigt, wie der Wandel zu einer grünen Wirtschaft gelingen kann und was sie von Angela Merkels Umweltpolitik hält. Im Video-Interview kommt sie gleich zur Sache, redet zum Teil ohne Punkt und Komma und zeigt dabei vor allem eins: ganz viel Engagement.

€uro am Sonntag: Frau Kemfert, zu Beginn der Corona-Krise erklärte die Regierung den verhängten Lockdown in Begleitung von Experten aus der Wissenschaft. Wünschen Sie sich ein solches Vorgehen auch in der Klimapolitik?

Claudia Kemfert: Es mangelt in der Klimapolitik nicht an wissenschaftlicher Expertise. Seit Jahrzehnten werden alle wissenschaftlichen Erkenntnisse in einem weltweiten Kompendium für alle Regierungen zusammengetragen. Daraus sind etwa globale Abkommen für Klimaschutz und Nachhaltigkeit entstanden. Aber die globalen Mühlen mahlen langsam, und massive Wirtschaftsinteressen haben rascheres Handeln verhindert.

Fatih Birol, der Direktor der Interna- tionalen Energieagentur, bezeichnet den Wiederaufbau nach Corona als "Chance, die es nur einmal im Leben gibt". Lassen wir diese Chance gerade verstreichen?

Jein. Es gibt zumindest Anzeichen dafür, dass wir sie nicht völlig ungenutzt lassen. Das deutsche Konjunkturpaket beispielsweise ist weniger klimaschädlich ausgefallen als befürchtet, indem auf neue Abwrackprämien für Diesel und Benziner verzichtet wurde. Auf EU-Ebene wird richtigerweise der Green New Deal vorangebracht. Leider gibt es auch das Gegenteil: Die USA, Australien oder Brasilien investieren weiter massiv in fossile Industrien. Sie lernen auch nicht aus der Corona-Krise.

Für viele Experten ist das Corona-Infektionsgeschehen Ausdruck einer gescheiterten Klimapolitik. Für Sie auch?

Zumindest ist es indirekt Resultat einer nicht nachhaltigen Wirtschaft. Eine effektive Klimaschutzpolitik umfasst auch eine umweltschonende Landwirtschaft und lokalen Umweltschutz. So wird gleichzeitig die Widerstandskraft der Wirtschaft sowie der gesamten Gesellschaft gestärkt.

Was in der aktuellen Krisenpolitik besonders auffällt, sind die enormen Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten des Staats.

So ist es. Es gibt für Politiker keine Ausreden mehr, wenn sie die Verantwortung auf andere abwälzen und nicht klimapolitisch aktiv werden.

Dennoch fehlt aktuell der Druck der Straße. Die Fridays-for-Future-Bewegung zum Beispiel wurde durch Corona massiv ausgebremst …

Im Netz war sie weiter aktiv. Die Bewegung hat sich genauso wenig aufgelöst wie die Klimaerhitzung. Das zeigen auch Umfragen: 80 Prozent der Deutschen halten den Klimawandel - nach wie vor - für ein ungelöstes drängendes Problem. Wer das nicht anerkennt, verwechselt seinen Stammtisch mit moderner, virtuell diskutierter Politik.

Umfragen sind das eine, politische Umsetzung das andere. Das zeigt die festgefahrene Diskussion um ein Tempolimit auf Autobahnen. Die Mehrheit der Deutschen ist seit Jahren dafür, aber trotzdem tut sich nichts.

Ja, leider. Die Industrie betreibt erfolgreich Lobbyarbeit: Das Mantra "Freie Fahrt für freie Bürger" verfängt immer noch sehr stark. Das Volk ist hier sehr viel schlauer als die Regierung.

Trotzdem sind viele Deutsche aus Angst vor einer Corona-Infektion zuletzt wieder aufs Auto umgestiegen.

Weil es bei vielen vor der Tür steht und der öffentliche Nahverkehr für eine Pandemie-Situation nicht ausreichend ausgestattet ist. Langfristig sollte der Weg von einer autogerechten Stadt hin zu einer menschengerechten Stadt führen.

Wie stellen Sie sich eine menschen- gerechte Stadt vor?

Menschen, egal ob auf dem Rad oder zu Fuß unterwegs, müssen mehr Platz bekommen - auch aus Gründen der Sicherheit. Und dann muss natürlich der öffentliche Nahverkehr eine echte Alternative zum Auto bieten. Viele sitzen im Auto, weil sie es müssen. Dabei macht es durch Stau und Lärm schon längst keinen Spaß mehr: Jedes Auto steht rund 23 Stunden pro Tag ungenutzt herum. Was könnte man Schönes mit den Parkplätzen anstellen!

Kritiker von mehr Umweltschutz argumentieren gern mit steigenden Kosten für Verbraucher: Stichwort EEG-Umlage.

Die ist falsch konstruiert: Wenn mehr günstiger Strom aus erneuerbaren Energien ins System eingespeist wird, sinkt der Strompreis an der Börse - die Differenz zahlen die Verbraucher. Das ist natürlich widersinnig, aber politisch so gewollt, um die Erneuerbaren als Strompreistreiber zu stigmatisieren.

Trotzdem bleibt Verbrauchern unterm Strich weniger im Geldbeutel, was wiederum die sozial Schwächsten am härtesten trifft.

Die Ungerechtigkeit ist sogar noch viel größer. Schließlich zahlen für Umwelt und Klimaschäden nicht die Verursacher, sondern die Steuerzahler. Deswegen brauchen wir endlich wahre Kostentransparenz: Reiche haben einen viel höheren CO2-Fußabdruck als Arme. Es wäre mehr als fair, wenn man etwa mit einer CO2-Steuer vor allem einkommensstarke Haushalte zur Kasse bittet und gleichzeitig eine Klimaprämie an alle zahlt. So ließen sich Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit vereinbaren. Die Ideen liegen längst auf dem Tisch, es hapert nur an der Umsetzung.

Das gilt auch für andere Bereiche: Deutschland subventioniert beispielsweise immer noch mit viel Geld klimaschädliche Produkte.

Ja, unglaublich. Die umweltschädlichen Subventionen fangen bei der fehlenden Kerosinsteuer und Dieselsteuererleichterung an und hören bei der Pendlerpauschale auf. Allein solche Subventionen zu streichen, also faire Marktchancen für alle zu schaffen, würde neuen Technologien wie der Elektromobilität helfen, endlich den Massenmarkt zu erreichen. Wir würden Geld sparen und Klimaschutz fördern. Stattdessen verplempern wir Milliarden für veraltete Technologien, die das Klima zerstören.

Auch die Finanzmärkte wollen grüner werden: Trotzdem fließen weltweit weiterhin Billionen Euro in die Förderung fossiler Industrien.

Deshalb brauchen wir eine klare Taxonomie - also einheitliche Kriterien, was genau grüne Investments sind. Die Verbraucher müssen sich darauf verlassen können, dass in einem "grünen Fonds" auch wirklich nur nachhaltig wirtschaftende Unternehmen gemäß strengen sozialökologischen Kriterien drin sind. Zum Glück ist das bereits in Arbeit.

Stichwort Green Deal der EU: Was erhoffen Sie sich von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft?

Zwei Dinge sind wichtig: Die Ziele zur Senkung der CO2- Emissionen müssen auf 60 Prozent bis 2030 erhöht werden. Mit den aktuellen 40 Prozent gegenüber 1990 können wir die Ziele aus dem Pariser Klimaabkommen nicht erreichen. Das aber wäre fatal, weil wir dann endgültig die Kontrolle verlieren.

Und zweitens?

Wir müssen eine Vollversorgung aus erneuerbaren Energien in allen Bereichen anstreben. Der Green Deal muss gezielt Anreize für Unternehmen schaffen, diese Transformation endlich anzupacken.

Wie könnten solche Anreize für Unternehmen aussehen?

Der Staat könnte bei der Anschubfinanzierung, also beim Wechsel auf klimafreundlichere Technologien, durch Investitionsallianzen helfen. Für viele Unternehmen wie etwa die Schwerindustrie ist das mit erheblichen Kosten verbunden. Langfristig machen sich diese Investitionen aber bezahlt; sie schützen Arbeitsplätze und machen Deutschland als Standort krisenfester.

Und wie könnten die Bürger an dieser Entwicklung beteiligt werden?

Zum Beispiel müssen wir die sogenannten Bürgerenergien, wie Heimspeicher und Solaranlagen, stärken. Das geht auch auf kommunaler Ebene durch Genossenschaftsprojekte. Studien zeigen, dass die Zustimmung für mehr Klimaschutz steigt, wenn die Menschen sich vor Ort an Lösungen beteiligen können.

Soll heißen, lieber die Energie vor Ort produzieren als in riesigen Offshore-Windparks?

Wir brauchen beides. Parallel zum Ausbau lokaler Energiegewinnung brauchen wir auch Großprojekte, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Mit den Großprojekten könnten wir auch die Überkapazitäten schaffen, die wir zur Gewinnung von grünem Wasserstoff benötigen.

Das ist jetzt aber ziemlich viel Zukunftsmusik, oder?

Überhaupt nicht. Von einer Wasserstoffgesellschaft träumen wir seit 40 Jahren, damals allerdings noch mithilfe von Atomenergie. Heute haben wir zunehmend überschüssigen Strom aus erneuerbaren Energien; daraus können wir - wichtig: grünen! - Wasserstoff produzieren, den wir dann als Treibstoff für die Schwerindustrie und als Speicher nutzen.

Auch die Arbeitswelt steht vor einem massiven Wandel: Wie sieht der idealtypische grüne Arbeitsplatz der Zukunft aus?

Die Arbeit der Zukunft wird anders als heute dezentral und flexibler sein. Klima und Umweltschutz sind die Treiber für eine nachhaltige Wirtschaft und zukunftsfähige Jobs, sei es im Bereich der Umweltschutzgüterproduktion, der erneuerbaren Energien, der Mobilitätsdienstleistungen oder der Herstellung von klimafreundlichem Stahl.

Von wie vielen neuen Jobs reden wir hier?

Erneuerbare Energien sind deutlich beschäftigungsintensiver als herkömmliche Branchen. Das DIW rechnet mit rund 800.000 neuen Jobs in den nächsten zehn Jahren - vorausgesetzt, die Regierung investiert jetzt mutig in Zukunftstechnologien. Bis jetzt ist eine konsequente Neuausrichtung der Wirtschaft auf Nachhaltigkeit und Digitalisierung leider ausgeblieben. Dabei ist effektiver Klimaschutz eine riesige wirtschaftliche Chance.

Brauchen wir für den ökologischen Wandel auch neue Kennzahlen für Erfolg? Hat das BIP ausgedient?

Unbedingt! Das BIP (Bruttoinlands- produkt, Anm. Red.) orientiert sich am Primat der Wirtschaft und sagt rein gar nichts über das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Wohlergehen aus. Und schon gar nichts über das ökologische Wohlergehen.

Was wäre die Alternative?

Indikatoren für eine gesunde Wirtschaft sind vielschichtig. Lassen Sie uns doch mit den Indikatoren der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDGs) anfangen, zu denen wir Deutschen uns zusammen mit fast allen Ländern der Welt verpflichtet haben. Dazu zählen etwa saubere Luft, Wasser, Energie und Gesundheit. Und diese Indikatoren zeigen wir anstelle der Börsennachrichten um kurz vor Acht im Fernsehen.

Angenommen, Sie wären die neue Umweltministerin: Welches Vor- haben hätte für Sie Priorität?

Nur eines? Ich hätte mindestens drei Themen, die man sofort angehen müsste …

Schießen Sie los …

Das Wichtigste ist ein schnellerer Ausbau der erneuerbaren Energien. Das Tempo muss verdoppelt werden, etwa indem man die bestehenden Vorschriften vereinfacht und Barrieren abbaut. Gleichzeitig müssen wir endlich unsere Verkehrsinfrastruktur grüner machen - soll heißen: weg von den vollgeparkten Straßen hin zu mehr Rad- und Elektroverkehr. Und drittens muss unsere Industrie energieeffizienter und klimaschonender werden, indem wir es schaffen, insgesamt weniger Energie zu verbrauchen.

Die Amtszeit von Angela Merkel nähert sich ihrem Ende. Was halten Sie von der viel gebrauchten Beschreibung als "Klimakanzlerin"?

Puh. Sie war mal als Klimakanzlerin gestartet, hat dann aber viele rückwärtsgerichtete Entscheidungen getroffen. Vor einem Jahr hätte ich daher gesagt, dass ihr dieser Titel auf gar keinen Fall zusteht. Jetzt gibt es aber positive Signale, dass sie den Klimaschutz wieder ernster nimmt. Wenn Merkel es auf europäischer Ebene in den kommenden Monaten schafft, schärfere Klimaregeln festzuschreiben, dann könnte sie zumindest eine Anwartschaft auf den Titel anmelden.
 


Vita:

Klimaprofessorin

Claudia Kemfert leitet die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Zudem ist sie Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Hertie School of Governance. 2016 wurde die 51-Jährige in den Sachverständigenrat für Umweltfragen berufen und erhielt unter anderem den Adam- Smith-Preis für marktwirtschaftliche Umweltpolitik.