Es reicht nicht zu sagen, wir sind für Europa und die anderen dagegen", ruft Annegret Kramp-Karrenbauer bei der Pro-Europa-Kundgebung "Pulse of Europe" Anfang Mai auf dem Berliner Gendarmenmarkt. Vielmehr gehe es darum, miteinander "zu streiten und zu ringen, wie dieses Europa aussehen soll", beschwört die CDU-Vorsitzende die Teilnehmer.

Doch statt um einen Ideenwettbewerb über die Zukunft Europas geht es im Wahlkampf vor allem um die Frage "Dafür oder dagegen?". Befürworter und Gegner haben die Wahlen zum Europäischen Parlament, die zwischen dem 23. und 26. Mai stattfinden, zur "Schicksalswahl" erklärt. Die Unterstützer der europäischen Idee eint dabei die Sorge, dass EU-kritische Parteien bei der Wahl starken Zulauf erhalten - und Europa damit schwächen.

Wie groß die Sorge davor ist, zeigen Wahlaufrufe von DAX-Konzernen w ie BASF, Deutsche Post, Lufthansa, Volkswagen und Thyssenkrupp. Nach dem Brexit-Referendum 2016 wurde der Wirtschaft vorgeworfen, die Bedeutung des europäischen Binnenmarkts für ihr Geschäft nicht laut genug verteidigt zu haben. Das soll bei der Europawahl anders sein. Nur eine "handlungsfähige EU ist in der Lage, auf Augenhöhe mit anderen Weltmächten zu verhandeln", heißt es in einem gemeinsamen Appell deutscher Wirtschaftsverbände mit Blick auf den wachsenden Protektionismus der USA und die zunehmende globale Einflussnahme Chinas.

Eigentlich ist die Zustimmung zur EU so hoch wie seit 25 Jahren nicht, wie die Frühjahrsumfrage des Europäischen Parlaments ergab. 61 Prozent der befragten EU-Bürger sehen die Mitgliedschaft in der Staatengemeinschaft positiv. Doch offenbar halten viele die Errungenschaften für so selbstverständlich, dass sie es nicht für notwendig erachten, ihre Stimme abzugeben. Die Wahlbeteiligung ist seit den ersten Wahlen 1979 rückläufig. 2014 betrug sie gerade einmal 42 Prozent.

Eine geringe Wahlbeteiligung aber könnte populistischen und nationalistischen Parteien zugutekommen, denen es besser gelingt, Unterstützer zu mobilisieren. So müssen die beiden größten europäischen Fraktionen, die konservative Europäische Volkspartei sowie die Sozialisten und Demokraten (S & D), mit teils deutlichen Stimmenverlusten rechnen. Erstmals in der Geschichte des EU-Parlaments reichen die Stimmen der "großen Koalition" voraussichtlich nicht für eine absolute Mehrheit.

Obwohl die Wahl damit so spannend ist wie noch nie, spielt im Wahlkampf kaum eine Rolle, wofür die einzelnen Parteien und ihre möglichen Koalitionspartner stehen. Dabei unterscheiden sich die Positionen bei Themen wie Zuwanderung, Sicherung der Außengrenzen, Mindestlohn oder Rüstungsexporten teilweise stark. Doch für den Schlagabtausch zwischen den Spitzenkandidaten Manfred Weber (EVP) und Frans Timmermans (S & D) ­sowie den kleineren Parteien im Fernsehduell interessierten sich kaum Zuschauer.

Denkzettel für nationale Regierungen


Kritik an der EU lasse sich im Wahlkampf besser verkaufen als Ideen, wie Europa künftig aussehen könnte, meint Thorsten Faas, Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft in Berlin. Hinzu komme, dass Europawahlen häufig "für nationale Themen zweckentfremdet werden", sagt er. Es geht also nicht darum, die künftige Politik in Europa mitzugestalten, sondern der aktuellen (nationalen) Regierung einen Denkzettel zu verpassen.

Vor allem in Frankreich herrscht diese Sorge. Emmanuel Macron hat sich bei der Präsidentschaftswahl 2017 mit einem explizit proeuropäischen Wahlkampf gegen die etablierten Parteien durchgesetzt. Während er Frankreich harte Reformen verordnete, konnte er sich in der EU nicht als einflussreicher Politiker beweisen, auch weil seine Vorschläge in Deutschland wenig Unterstützung fanden.

Wie groß die Unzufriedenheit mit Ma­crons Politik ist, machen die Gelbwesten-­Proteste deutlich: Seit November 2018 gingen in ganz Frankreich Hunderttausende Demonstranten auf die Straße. Doch so einig sich die Protestler in ihrer Ablehnung von Macrons Politik sind, so uneins sind sie darüber, was die besseren Alternativen sind. Gleich mit drei Listen treten Vertreter der Gelbwesten bei der Europawahl an, die politische Ausrichtung reicht von ganz links bis ganz rechts. Auch Marine Le Pens rechtsnationale Partei Rassemblement Na­tional hofft von der Unzufriedenheit zu pro­fitieren. Aktuellen Umfragen zufolge liegt sie mit Macrons Kandidaten gleichauf.

Während in Frankreich die Themen Arbeit, Sicherheit, Migration und Kaufkraft den Wahlkampf bestimmen, steht in Großbritannien der vorerst gescheiterte EU-Austritt im Zentrum der Kampagne. Großer Wahlgewinner dürfte die neu gegründete Brexit-Partei um Nigel Farage sein, die aus dem Stand rund 30 Prozent schaffen könnte.

Allianz der Rechtspopulisten


Auch in Italien werden Rechtspopulisten der Lega voraussichtlich stärkste Partei. Lega-Chef Matteo Salvini macht mit markigen Parolen gegen Migranten und Brüssel Stimmung. Gemeinsam mit zehn anderen rechtspopulistischen Parteien hat er die Europäische Allianz der Völker und Nationen (EAPN) gegründet. Mitglieder sind unter anderem die Alternative für Deutschland (AfD), Rassemblement National und die österreichische FPÖ.

Unklar ist, wie sich der Korruptions­skandal um den FPÖ-Chef und österreich­ischen Vizekanzler Heinz-Christian Strache auswirken wird. Strache ist am Sonntag zurückgetreten, Anfang September soll es Neuwahlen geben. Die große Frage ist nun, ob sich die Affäre über Österreichs Grenzen hinaus auf das Wahlergebnis der Rechtspopulisten auswirkt, die sich oft als (sauberer) Gegenpol zum politischen Establishment gerieren.

Vor dem FPÖ-Skandal schnitt die EAPN in Umfragen als viertstärkste Kraft ab. Damit könnte künftig erstmals eine nennenswerte Fraktion im EU-Parlament vertreten sein, die die Idee der europäischen Inte­gration nicht teilt. Das fordere die pro­europäischen Parteien heraus, ihre Vision von Europa weiterzuentwickeln, sagt Alberto Alemanno, Jura-Professor an der renommierten HEC-Hochschule in Paris, mit dem Forschungsschwerpunkt Rechtssystem und Demokratie in der EU. Er glaubt, die neuen Mehrheitsverhältnisse könnten deshalb auch "eine Chance für Europa" sein.