Olivier de Berranger schont seine Leser nicht. Im Stakkato lässt der Chefanlagestratege der Vermögensverwaltung LFDE im aktuellen Marktausblick Hiobsbotschaften auf sie einprasseln: mehr Insolvenzen, zunehmende Fake News, die USA als gespaltenes Land, steigende Corona-Fallzahlen in Europa, unkontrollierte Virusverbreitung in Indien und stockende Brexit-Verhandlungen - die Liste ist lang, ihr Inhalt gravierend.

"Müssen wir nun eine umfassende Korrektur befürchten?", fragt Berranger. Natürlich gibt der Experte sofort eine Antwort: "Es wäre kurzsichtig, die Hoffnung in den Markt zu verlieren." Und er dürfte damit recht behalten. Denn eine Reihe von Faktoren zeigt, dass es für Wirtschaft und Finanzmärkte gar nicht so schlecht aussieht, wie von vielen Seiten befürchtet.

Da ist zum einen die Konjunktur, die sich weniger schwach präsentiert als vor einigen Monaten erwartet. In den vergangenen Wochen hat sich die Mehrzahl globaler Wirtschaftsindikatoren über alle Regionen hinweg weiter nach oben bewegt. Auch in Deutschland entwickelt sich die Wirtschaft besser als prognostiziert. Nach Schätzung der Dekabank wächst das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal um mehr als sechs Prozent zum Vorquartal.

Vorboten des Aufschwungs

Ebenso bessert sich die Stimmung. So wie der Ifo-Geschäftsklimaindex vor drei Wochen kletterte auch der ZEW-Index am Dienstag nach oben. Die Konjunkturerwartungen der befragten Großanleger erreichten 77,4 Punkte - das höchste Niveau seit Mai 2000.

Ein weiterer entscheidender Treiber dürfte den Aktienmärkten über Jahre hinweg erhalten bleiben: die extrem niedrigen Zinsen. Das Leitzinsniveau liegt in Europa schon seit 2016 bei null Prozent, die US-Notenbank hat im Zuge der Corona-Pandemie gleichgezogen. Zuletzt überraschte die Fed sogar mit einem Paradigmenwechsel. Ihr Chef Jerome Powell kündigte an, bei höheren Inflationszahlen in der Zukunft nicht mehr zwangsläufig die Zinsen erhöhen zu wollen, wenn eine lange Phase niedriger Inflation vorangegangen war.

Da die Teuerung seit Jahren niedrig ist, steht es der Fed nun frei, die Zinsen am Boden zu lassen, selbst wenn die Inflation anzieht. "Auf der Zentralbankseite bleibt es bei maximaler Unterstützung", sagt Stefan Rondorf, Investment-Stratege bei Allianz Global Investors, mit Blick auf die Aktienmärkte.

Positive Signale kommen auch aus den Unternehmen selbst. Die Situation bei den Gewinnen stellt sich nicht mehr ganz so düster dar wie noch vor einigen Monaten. Absolut betrachtet, müssen die Konzerne zwar deutliche Rückgänge verkraften. Im Vergleich zum Vorjahr schrumpften die Gewinne der 600 größten europäischen Unternehmen im zweiten Quartal um 52 Prozent. Doch die Mehrzahl der Firmen konnte die Erwartungen der Analysten übertreffen. Rund 60 Prozent machten höhere Gewinne, als von diesen vorhergesagt.

Nachdenklich stimmen aber die beständig wachsenden Bewertungen der Unternehmen an den Börsen. Die Aktienkurse haben ihren Vor-Corona-Stand fast wieder erreicht oder sogar übertroffen. Weil die Kurse stärker gestiegen sind als die Gewinnprognosen, sind viele Aktien teuer. Besonders extrem fallen die Werte für US-Aktien und insbesondere die der Tech-Riesen aus. Das Kurs- Gewinn-Verhältnis für den US-Leitindex S & P 500 liegt bei fast 23 - und erinnert damit an die Zeiten der Technologieblase im Jahr 2000. Auch der DAX hat mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 17 ein hohes Niveau erreicht.

Die Launen der Anleger

In puncto Anlegerlaune sind die Signale gemischt. Seit Monaten befindet sich die vom Finanzdienstleister Sentix ermittelte Stimmung für deutsche, europäische und US-Aktien im negativen Terrain. Investoren blicken also zurzeit eher skeptisch auf die Börsen. Diese Haltung steht im Gegensatz zu den starken Kursanstiegen seit Mitte März. "Es ist sehr ungewöhnlich, dass die Stimmung während einer Erholung so gedrückt bleibt", sagt Manfred Hübner von Sentix. "Normalerweise färben Kurssteigerungen auf die Anleger ab."

Die schlechte Stimmung führt einerseits dazu, dass sich Anleger mit Käufen zurückhalten. Andererseits zeigt sie, dass in den mittlerweile hohen Kursen keine übertriebene Euphorie steckt. Insgesamt spricht das gegen ein größeres Rückschlagpotenzial.

Gleich mehrere Faktoren stimmen daher für die kommenden Monate zuversichtlich - auch wenn viele Unsicherheiten bestehen bleiben. Nach Ansicht der Redaktion bieten in dieser Phase vor allem drei Anlagesegmente Chancen. Zum einen wäre ein wirtschaftlicher Aufschwung ein ideales Umfeld für Unternehmen aus zyklischen Branchen. Zum anderen könnten in Abkehr von der bisherigen Erfolgsgeschichte stabil wachsender Unternehmen (Growth) Titel reüssieren, die mit niedrigen Bewertungen auffallen (Value). Für weniger risikobereite Anleger kommen darüber hinaus Unternehmen in Betracht, die mit hohen Ausschüttungen glänzen. Für alle drei Bereiche stellt €uro am Sonntag zwei Aktien ausführlich vor.

Zykliker

Wendegewinner

Die Börsenhistorie zeigt: Die Aktienkurse von Unternehmen, deren Geschäftsentwicklung eng mit dem Trend der Gesamtwirtschaft verknüpft sind, steigen in der ersten Phase eines Konjunkturaufschwungs besonders stark. In diese Kategorie gehört Daimler. 1,7 Milliarden Euro Verlust hat der Autohersteller im ersten Halbjahr eingefahren. Dicke rote Zahlen in Krisenzeiten sind für Industriekonzerne nicht ungewöhnlich: Mit fast 300.000 Beschäftigten und Produktionsstandorten rund um die Welt hat Daimler hohe Basiskosten.

Wenn wie jetzt in der Pandemie deutlich weniger Autos verkauft werden, sind die Schäden in der Bilanz groß. Im Geschäftsjahr 2009, dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise, verbrannte Daimler 2,6 Milliarden Euro, erholte sich aber im folgenden Jahr. Dieses Mal dürfte die Wende schneller gelingen. Analysten erwarten, dass Daimler im zweiten Halbjahr kräftig zulegt und das Jahr mit einem Gewinn in dreistelliger Millionenhöhe beendet. Diese Erholung wird an den Aktienmärkten vorab eingepreist. Die Börsenprofis sehen weiter Potenzial für die Aktie: Das gute Geschäft in China, Kostensenkungen und der Start der neuen S-Klasse können für positive Überraschungen sorgen.

Eher verhalten ist die Kurserholung bislang beim Chemiekonzern BASF gelaufen. Anders als bei Daimler fehlen aus Ludwigshafen klare Signale für eine Trendwende im Tagesgeschäft. Der operative Gewinn vor Sondereinflüssen schrumpfte im zweiten Quartal um 77 Prozent. Für das dritte Quartal erwartet BASF bei dieser Kenngröße "noch keine wesentliche Verbesserung". Die Investmentbank JP Morgan kalkuliert, dass der Gewinn von BASF bereinigt um das Öl- und Gasgeschäft in diesem Jahr in etwa auf das Niveau des Krisenjahres 2009 fällt. Damit müsste eigentlich der Tiefpunkt und die Basis für eine Trendwende erreicht sein.

Value

Billigheimer

Bei den meisten Unternehmen sind die Aktienkurse seit dem Corona-Tief im März stärker gestiegen als die Gewinnschätzungen der Analysten. Dadurch sind viele Aktien auf dem Papier teuer. Es gibt aber Ausnahmen: Bayer wird lediglich mit dem Achtfachen des für die kommenden zwölf Monate erwarteten Konzerngewinns gehandelt. Das entspricht einem massiven Bewertungsabschlag sowohl zum Pharma- als auch zum Agrarsektor.

Der Hauptgrund liegt auf der Hand: Bayer muss sich wegen des Unkrautvernichters Glyphosat gegen Schadenersatzklagen wehren. Die Verhandlungen über einen außergerichtlichen Vergleich gehen jetzt in die entscheidende Phase. Bayer ist zuversichtlich, eine Einigung zu erzielen, auch über die Handhabung künftiger Fälle. Der Konzern hat bereits Sonderbelastungen von knapp elf Milliarden Dollar in der Bilanz des zweiten Quartals verbucht. Eine Beilegung des Rechtsstreits könnte somit der Startschuss für eine Aufholbewegung der Aktie sein. Das Kursziel der Analysten für Bayer liegt bei 77 Euro und damit mehr als ein Drittel über dem aktuellen Kurs.

Billige Aktien gibt es an der Börse nur zu Krisenzeiten. Der Medienkonzern ProSiebenSat.1 ist doppelt in Bedrängnis: Kurzfristig hat die Pandemie die Werbeerlöse der Sendergruppe deutlich gedrückt. Strukturell ist die Konkurrenz durch Streamingdienste wie Netflix eine Bedrohung. Im zweiten Quartal ist der Umsatz bei ProSiebenSat.1 um ein Viertel eingebrochen. Unterm Strich blieb ein Verlust von 52 Millionen Euro. Die wichtigste Phase des Geschäftsjahrs ist aber das Schlussquartal, in dem in der Vergangenheit rund die Hälfe des bereinigten operativen Gewinns erwirtschaftet wurde. Damit könnte der Konzern die Corona-Schäden eingrenzen.

Fundamental sehen Analysten in dem Firmenkonglomerat von ProSiebenSat.1 versteckte Werte, vor allem in den Internetbeteiligungen. Diese könnten gehoben werden etwa durch den für 2022 geplanten Börsengang der Datingportale. Mit einem einstelligen KGV auf Basis der für die kommenden zwölf Monate erwarteten Gewinne gehört ProSiebenSat.1 zu den niedrig bewerteten Titeln am deutschen Aktienmarkt.

Dividende

Hochprozenter

Acht Prozent Dividendenrendite. Auf diesen ungewöhnlich hohen Wert können Anleger bei Freenet hoffen. Dabei hatte der Mobilfunkanbieter aus Schleswig-Holstein in der Pandemie seine Ausschüttung auf den eher symbolischen Minibetrag von vier Cent je Aktie gesenkt. Durch einen Deal in der Schweiz hat sich die finanzielle Lage aber schlagartig verbessert: Der US-Konzern Liber- ty Global will den Schweizer Mobilfunker Sunrise übernehmen - das bietet Freenet als Großaktionär von Sunrise eine attraktive Ausstiegsmöglichkeit.

Mit den Einnahmen von mehr als einer Milliarde Euro könnte Freenet seine Schulden deutlich reduzieren. Das wiederum würde das Fundament für die Dividende stärken. Der Vorstand hat bekräftigt, mindestens 80 Prozent des Free Cashflow an die Aktionäre auszuschütten. Laut Konsensschätzung kalkulieren Analysten mit einer Zahlung von 1,50 Euro im kommenden Jahr.

Der ungewöhnlich hohen Dividendenrendite stehen auch in diesem Fall Risiken im operativen Geschäft von Freenet entgegen: Der Mobilfunkmarkt ist hart umkämpft, der Margendruck groß. Analysten erwarten bei Freenet darum keine Dividendensteigerungen, aber zumindest bis 2022 eine Ausschüttung auf konstantem Niveau.

Unter den großen deutschen Unternehmen sind die Versicherungskonzerne bei Dividendensammlern begehrt. Auch die Assekuranz leidet unter der Corona-Krise. Die Munich Re musste im ersten Halbjahr Schäden in Höhe von 1,5 Milliarden Euro verkraften. Der Nettogewinn hat sich auf 800 Millionen Euro halbiert. Genug Geld für die Dividende sollte trotzdem vorhanden sein. Analysten gehen davon aus, dass der Rückversicherer im kommenden Jahr erneut 9,80 Euro je Aktie ausschüttet.

Die Dividendenrendite der Munich Re ist mit rund vier Prozent niedriger als die des Rivalen Allianz, dafür dürfte der Sicherheitspuffer für den Fall einer verschärften Krise größer sein.
 


INVESTOR-INFO

Konjunktur

Optimistischer Ausblick

Nach dem scharfen Einbruch im Frühjahr ist der Geschäftsklima-Index des Ifo-Instituts in den vergangenen Monaten merklich gestiegen. Die wirtschaftlichen Erwartungen für die Zukunft liegen sogar über dem Niveau zu Jahresbeginn. Die Entwicklung der Unternehmen ist besser als gedacht.

Zinsen

Niedrigniveau zementiert

Spürbare Zinsen gibt es schon lange nicht mehr. Seit 2016 liegen sie in Europa bei null Prozent, auch in den USA sind sie seit März wieder auf diesem Niveau. Die Marktakteure gehen für beide Regionen davon aus, dass die Zinsen bis 2023 bei oder nahe null Prozent bleiben werden.

Gewinntrend

Ab jetzt geht es aufwärts

Die Pandemie hat auch die großen US-Konzerne unter Druck gesetzt. Im zweiten Quartal schrumpften die Gewinne der Mitglieder des S & P 500 um fast ein Drittel. Das dürfte der Tiefpunkt gewesen sein. Für den Rest des Jahres erwarten Analysten eine Entspannung. Im kommenden Jahr sollen die Gewinne dann erstmals wieder steigen.

Bewertung

Die Börse läuft voraus

Der DAX ist teuer geworden. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis des Index liegt rund ein Drittel über dem Schnitt der vergangenen zehn Jahre. Börsianer nehmen also eine deutliche Erholung der Unternehmensgewinne vorweg. Auch die Zinspolitik der Notenbanken treibt das Bewertungsniveau nach oben.

Anlegerstimmung

Hausse ohne Jubel

Seit Februar ist die Stimmung der Anleger gegenüber deutschen Aktien fast ständig im negativen Bereich. Die Diskrepanz zwischen gestiegenen Kursen (DAX) und schlechter Laune ist groß. Fällt das Sentix Sentiment in den grünen Bereich, gilt der Pessimismus als übertrieben, steigt es in den roten Bereich, herrscht ungesunde Euphorie.

Wachstum

Aufholjagd

Teure Aktien können ein Top-Investment sein. Bei Zyklikern steigt das Kurs-Gewinn-Verhältnis zum Start in eine Aufschwungphase stark an, weil Börsianer wie derzeit bei Daimler und BASF eine deutliche Gewinnerholung vorwegnehmen. Growth-Fonds wie der T. Rowe Price Global Focused Growth setzen dagegen auf Firmen, bei denen sie über längere Zeiträume hohes Wachstum erwarten, etwa Amazon und Mastercard.

Billig

Unterschätzte Chancen

Als Value gelten Aktien, deren Bewertungskennziffern niedrig sind. Oft sind das Problemfälle. Die Idee ist, dass die Masse deren Potenzial unterschätzt, so wie bei Bayer und ProSiebenSat.1. Value-Investoren hatten zuletzt einen schweren Stand, weil die Märkte durch teure Techs getrieben wurden. Fonds wie der Acatis Global Value setzen auf ein Comeback der Strategie.

Dividende

Bargeld als Bonus

Dividenden sind als Zinsersatz begehrt. Als zuverlässiger Zahler hat sich die Munich Re bewährt. Freenet ist als Investment deutlich riskanter. Auf lange Sicht bringen Dividendenstrategien oft überdurchschnittliche Renditen. Unter den Fonds ragt der Fidelity Global Dividend heraus. Top-Positionen dort waren zuletzt Taiwan Semiconductor, Unilever und Deutsche Börse.