Erst der Amerikaner, dann der Deutsche. Die Reihenfolge, in der die Konzernchefs Jeffrey Immelt und Joe Kaeser vergangene Woche bei Frankreichs Präsident François Hollande vorsprachen, hat wohl Symbolcharakter. Denn im Poker um die Energiesparte des französischen Konzerns Alstom hat General Electric (GE), der große US-Rivale von Siemens, die Nase vorn. 12,4 Milliarden Euro bietet der amerikanische Mischkonzern. Alstom will die Offerte offiziell bis zu vier Wochen lang prüfen.

Vorstand und Verwaltungsrat präferieren das Angebot von GE, das scheint schon jetzt klar. Noch aber hat Kaeser einen Fuß in der Tür. Der Siemens-Chef will den Franzosen neben Cash die Zugsparte der Münchner andienen - und ebenfalls weit über zehn Milliarden Euro investieren. Seine Bedingung: Siemens darf vier Wochen lang die Alstom- Bücher prüfen. Konzernchef Patrick Kron macht das wiederum von einem konkreten Angebot der Deutschen abhängig.

GE-Boss Immelt gibt sich öffentlich bereits siegessicher. Kaeser nutzt die Nähe zur französischen Politik: Aus Imagegründen würde die Regierung in Paris einen Tausch von Aktivitäten einer Übernahme wohl vorziehen. Die Münchner beschwerten sich in einem öffentlich lancierten Brief an Alstom, Kron habe "nicht alle Möglichkeiten gleichermaßen in Betracht gezogen".

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Kaeser zieht alle Register

Spielzüge auf diplomatischem Parkett, ein zweistelliger Milliardeneinsatz - der 56 Jahre alte Siemens- Lenker zieht im Poker um Alstom alle Register. Für Kaeser geht es nicht nur um einen Triumph im Kampf gegen den Erzrivalen GE. Es wäre zugleich der erste große Zukauf von Siemens unter Kaeser als Vorstandschef - und eine grundlegende Weichenstellung für die Zukunft des Mischkonzerns.

Mit dem Milliardengebot hat der Siemens-Chef deutlich gemacht, wo er den Kern des Konzerns künftig sieht - und wo nicht. Die Energiesparte mit ihrer Kraftwerkstechnik zählt zu den Perlen von Siemens. Auf weite Teile des Bereichs Mobility, sprich die Zugsparte mit den ICEs, will Kaeser offenbar gern verzichten.

Verständlich, gilt doch die Verkehrstechnik als Dauerbaustelle im Unternehmen. Zuletzt geriet die Lieferung von 16 ICE-Hochgeschwindigkeitszügen an die Deutsche Bahn zum Desaster. Fahrzeuge wurden nicht fristgerecht fertig, die Bahn musste im Winter 2013 sogar den Fahrplan ändern. Siemens entstanden Kosten in dreistelliger Millionenhöhe, den Spott der breiten Öffentlichkeit gab’s obendrein. "Eine Megapeinlichkeit", kanzelte Kaeser seine Spartenmanager öffentlich ab.

Solche Pleiten soll es künftig nicht mehr geben. Auch deshalb bastelt Kaeser seit Monaten im engsten Führungszirkel an einer neuen Ausrichtung des Mischkonzerns. Kommenden Mittwoch will der Vorstandschef in Berlin verkünden, wie die künftige Strategie für "Siemens nach 2014" aussehen soll.

Das Ziel des Niederbayern ist klar. Siemens soll schlanker, schneller, effizienter werden. Die kostspielige und auch Pannen befördernde Bürokratie im Konzern mit seinen weltweit rund 360 000 Beschäftigten in über 190 Ländern muss abgebaut werden, lautet die Maxime.

Mehr Effizienz tut not. Unter Vorgänger Löscher hat der größte deutsche Ingenieurskonzern mächtig Speck angesetzt. Löscher wollte den Umsatz um jeden Preis auf 100 Milliarden Euro steigern und heuerte viele Tausend Mitarbeiter an.

Ein ausufernder Wasserkopf war das Ergebnis. Der Anteil der Verwaltungskosten am Umsatz schnellte im vergangenen Geschäftsjahr auf ein Fünfjahreshoch. Zwölf Prozent operative Gewinnmarge wollte Löscher bis 2014 schaffen, nicht einmal acht Prozent wurden es 2013. Das Ziel in weiter Ferne, musste Löscher im Sommer gehen.

Das große Vorbild und der Angstgegner der Deutschen, General Electric, ist bei der Profitabilität weit voraus. Wie Siemens machen die Amerikaner Geschäfte mit der Industrie, sind in der Energie-, aber auch in der Medizintechnik aktiv. Die operative Marge war im vergangenen Geschäftsjahr mehr als doppelt so hoch wie die der Deutschen.

Die Börse honoriert das: Die rund 200 Milliarden Euro Jahresumsatz von GE werden am Aktienmarkt pro Euro beinahe doppelt so hoch bewertet wie die knapp 76 Milliarden von Siemens (siehe rechts).

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Bayern auf Diät

Dass GE mit der Energiesparte von Alstom noch stärker wird, will Kaeser verhindern. Schließlich würde GE mit Alstom einen mächtigen Brückenkopf in Europa erhalten, dem Heimatmarkt der Münchner, den sie bislang eindeutig dominieren. Wie auch immer sich die Franzosen entscheiden: Schlanker muss Siemens so oder so werden - Kaeser selbst hat es seit August vorgemacht und diverse Pfunde verloren.

So viel ist klar: Die vier Sektoren Energie, Industrie, Medizintechnik sowie Infrastruktur, die Löscher eingeführt hatte, werden samt zugehöriger Verwaltung abgeschafft. Mehrere Tausend Stellen könnten dadurch eingespart werden, zusätzlich zum laufenden Sparprogramm, bei dem 15 000 Jobs wegfallen.

Die nachgelagerten Bereiche, derzeit 16 Divisionen, rücken an erste Stelle und sollen durch den Vorstand stärker kontrolliert werden. Ein besonderes Anliegen Kaesers: Sämtliche Prozesse von der Auftragsakquise über die Fertigung bis zur Projektabwicklung sollen vereinfacht und beschleunigt werden.

Auch die Zahl der Divisionen dürfte deutlich sinken. Für Mitarbeiter an Standorten wie München, Erlangen und Berlin stellt sich somit die Gretchenfrage: Welche Bereiche bleiben - und welche nicht?

"Siemens ist eine Elektrifizierungsfirma", hatte der frisch gebackene Vorstandschef Anfang August als neues Firmenmotto postuliert. Das Leitmotiv des Betriebswirts, der seit 34 Jahren bei Siemens arbeitet und den Konzern beinahe bis in den letzten Winkel kennt, gründet nicht nur auf der elektrotechnischen Tradition des Hauses. Es fußt zugleich auf seinen Sachkenntnis als Finanzchef. Kaeser weiß: Der Konzerngewinn speist sich zu vier Fünfteln aus nur vier der 16 Divisionen.

Zu den Profitturbinen zählt die Kraftwerkssparte, daneben das Geschäft mit medizinischen Großgeräten wie Kernspintomografen. Beide verdienen operativ jährlich jeweils im Milliardenbereich. Auch die Industrieautomatisierung und die Elektroantriebe gehören zu den Leistungsträgern. Beschränkte sich Siemens auf diese Top 4, läge die operative Gewinnmarge annähernd auf dem Niveau von GE.

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Kein kalter Optimierer

Eine Verstärkung der Energiesparte durch Alstom passte Kaeser somit perfekt ins Konzept. Klappt es nicht mit dem Deal, hat das Mitglied der Feuerwehr seines Heimatorts Arnbruck aber noch weitere Eisen im Feuer. Die Bayern sind angeblich auch am Energiegeschäft der britischen Rolls-Royce dran. Ein Deal, womöglich ebenfalls in Milliardenhöhe, könnte bereits kommenden Mittwoch verkündet werden.

Das zweite Schlüsselelement für "Siemens nach 2014" aber liegt in der Industrie. Kaeser folgt hier einem Megatrend: Produktionsanlagen werden immer stärker vernetzt, ob in der Automobil-, der Chemieoder der Pharmabranche. Die "Industrie 4.0" lässt Fabriken noch effizienter arbeiten. Für die Digitalisierung soll Siemens gerüstet sein. Mit Stolz verweist der Chef regelmäßig auf die über 17 000 Softwareentwickler im Konzern. Neue Rivalen stehen demnach bereits in den Startlöchern: Den Elektronikriesen Samsung etwa haben die Siemens- Strategen als künftigen Wettbewerber identifiziert. Die Koreaner investieren kräftig in Industriesoftware wie in Medizintechnik. Auch Siemens dürfte sich in der Industriedigitalisierung weiter verstärken.

Andernorts aber wird es Verlierer geben. Zwar ist Kaeser kein kalter Portfolio-Optimierer, der Geschäfte bloß nach Kennzahlen beurteilt und schwache geschwind verkauft. Doch auf lange Sicht steht hinter diversen Bereichen ein Fragezeichen.

So gelten neben der Zugsparte auch Randaktivitäten wie die Postund Gepäckautomatisierung oder die Hörgerätesparte schon seit Längerem als Verkaufskandidaten. Ein weiterer Wackelkandidat ist das Diagnostikgeschäft. Vor sieben Jahren wurde es als künftiger Wachstumstreiber teuer eingekauft. Doch die Erwartungen haben sich nicht erfüllt, die operative Marge des Bereichs stagniert seit der Übernahme. Vor allem aber weist der Bereich wenig Synergien zum medizinischen Großgerätebau oder gar zum Rest von Siemens aus. Eine Abspaltung ist früher oder später wohl fällig.

Grundsätzlich will Kaeser Geschäfte nicht einfach veräußern, sondern vor einem Verkauf wieder auf die Beine stellen. Bei einzelnen Bereichen aber kann es durchaus mal einen harten Schnitt geben. So hat Siemens den Stahlanlagenbau VAI gerade an den japanischen Wettbewerber Mitsubishi Heavy Industries verkauft.

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Große Unbekannte Alstom

Vieles hängt indes auch davon ab, ob Kaeser bei Alstom doch noch zum Zug kommt - und wie weitreichend die Zugeständnisse sind, die die Franzosen dem Siemens-Chef abringen. Drei Jahre Arbeitsplatzgarantie hat Kaeser für die Alstom-Mitarbeiter angeblich geboten. Siemensianer sind angesichts der Offerte verunsichert, die IG Metall alarmiert: Wenn die Franzosen geschont werden, müssen dann die Deutschen Opfer bringen, um Kaesers künftige Effizienzvorgaben zu schaffen?

Viele Siemensianer sind seit den Bemühungen Kaesers auf dem Pariser Parkett nicht entspannter geworden - eher im Gegenteil.

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