Die Aktivisten hatten sich schon früh vor der Münchner Olympia­halle postiert. "Siemens zündelt, Australien brennt", stand auf Schildern der Demonstranten, die dem Ruf der "Fridays for Future"-Bewegung zur Siemens-Hauptversammlung gefolgt waren. Anlass für den Aufruhr ist ein Auftrag für Zugsignaltechnik des indischen Adani-Konzerns, der in Australien eine Kohlemine baut. Wegen der für Konzernverhältnisse winzigen Order über 18 Millionen Euro steht Siemens als Klima­übeltäter seit Wochen am Pranger.

Vor allem Joe Kaeser hat das zu spüren bekommen. Dafür wirkt der Vorstandschef erstaunlich kühl und konzentriert, als er vor dem Aktionärstreffen zu den Quartalsergebnissen referiert. Auch die sind kein Grund zum Jubeln: Der operative Gewinn brach um fast ein Drittel ein. Die weltweite Corona-Epidemie bereitet dem Manager Sorgen. "Es geht nicht nur um die Absatzmärkte, es geht auch um die Beschaffung. Wir haben eine Taskforce im Einkauf eingerichtet", sagt Kaeser.

Heftige Kritik kommt nicht nur von Aktivisten, auch Vertreter großer Investoren nehmen den Vorstand aufs Korn. "Nicht zu erkennen, dass durch das Adani-Projekt ein Reputationsschaden entstehen könnte, war ein Fehler", sagt etwa Markus Poppe, Vertreter der Fondsgesellschaft DWS. Es sei aber richtig gewesen, den Auftrag zu erfüllen - alles andere hätte Kunden und Investoren verunsichert.

Gleichwohl ist die Sache vertrackt genug, um dem Siemens-Chefs seinen Abgang zu vermiesen. Kaesers Vertrag läuft noch ein Jahr. Seine Verdienste sind unumstritten: Die Prognosen wurden erfüllt, dreimal auch unterjährig erhöht, der Auftragsbestand steht auf Rekordniveau bei 146 Milliarden Euro. Viele Beschäftigte jedoch sind tief verunsichert.

Mit mehreren Strategieplänen, zuletzt der "Vision 2020+", stellte der Niederbayer seit Amtsantritt im August 2013 das Unternehmen auf den Kopf wie noch kein Chef zuvor. Aus vier Sektoren mit 19 Subdivisionen unter Vorgänger Peter Löscher wird Kaesers Masterplan zufolge ein auf Indus­triedigitalisierung und digitale Infrastruktur konzentriertes Mutterschiff, das börsennotierte Töchter aus Medizin- und Energietechnik als Beiboote begleiten.

Noch im Herbst spielte der selbstbewusste Chef öffentlich mit dem Gedanken, seinen Vertrag zu verlängern - obwohl Vorstandskollege Roland Busch bereits als Nachfolger designiert war. Nach der Adani-­Pleite scheint klar: Vize Busch wird übernehmen, womöglich bereits im Sommer. Vielen gilt Kaeser, der Klimaaktivistin Luisa Neubauer angeblich einen Aufsichtsratssitz bei der Energietochter anbot, als angeschlagen. Aktionäre fragen sich inzwischen, wie der Chef das wichtigste Vorhaben des laufenden Geschäftsjahrs erfolgreich über die Bühne bringen will: die Börsennotierung der Energiesparte, die künftig als Siemens Energy firmieren soll.

Megaprojekt Aufspaltung


Der springende Punkt: Siemens Energy ist vor allem weniger grün als braun, weil fossil geprägt. "Wir sind treibende Kraft der Dekarbonisierung", wirbt der designierte Energy-Chef Michael Sen dennoch unentwegt für das Projekt. Der gewiefte Verkäufer spaltete einst für den Versorger Eon die CO2-trächtige Kraftwerksparte Uniper ab und brachte sie an die Börse. Grünes steckt auch in Energy drin: Mutter Siemens gibt der Tochter ihren soeben teuer auf 67 Prozent aufgestockten Anteil am Windkraft­anlagenbauer Gamesa mit auf den Weg. Dieser grüne Umsatz wird somit voll konsolidiert - das ergibt etwa ein Drittel Ökoenergie. Wobei der Windkraft ausgerechnet jetzt die Puste ausgeht: Gamesa gab soeben eine Gewinnwarnung ab und schrieb im Weihnachtsquartal Verluste.

Tatsächlich aber ist das Gros des Umsatzes des Börsenaspiranten von insgesamt rund 27 Milliarden Euro nicht nur in den Augen von Ökoaktivisten schmutzig braun: Energy steckt wegen Kaesers Übernahme des US-Ölausrüsters Dresser Rand mitten in der Rohstoffhausse vor fünf Jahren tief drin in der Ölbranche. "Das ist eine Bürde für die Energiesparte. Investoren wollen heute die grünen Sparten haben, die fossilen sind nicht attraktiv. Am besten wäre es, man würde Siemens Energy abermals aufspalten", sagt Vera Diehl, Fondsmanagerin bei Union Investment.

So besteht die Gefahr, dass das einstige Kerngeschäft des größten deutschen Industriekonzerns, wenn es im Herbst mit seinen 88.000 Mitarbeitern wohl per Spin-off gen Börsennotierung strebt, von Investoren eher mit einem Naserümpfen bedacht wird. Bezahlen muss bei einem Spin-off zwar keiner der Anteilseigner - die Aktien werden den Siemens-Aktionären ins Depot eingebucht, so wie das bereits bei der Lichttechniktochter Osram der Fall war -, aber Sen und seine Mitstreiter im Siemens-Energy-Team werden die Story fleißig grün anpinseln müssen, um Einbrüche beim Kurs zu verhindern.

Seit Jahren ist die Sparte, die zuletzt den Namen "Gas & Power" trug, die größte Konzernbaustelle. Sie steckt noch immer in einer harten Restrukturierung. Eine Milliarde Euro sollen bis 2023 gespart werden. Der einstige Verkaufsschlager, große Gasturbinen, ist seit dem Aufstieg der regenerativen Energien nicht mehr gefragt. Der Trend geht zu regenerativen Quellen und dezentraler Erzeugung. Die Mehrzahl der Kunden ordert, wenn überhaupt, kleinere Turbinen. Und die bringen nicht viel Gewinn. "Mit dem Neugeschäft können wir unsere Gehälter hier nicht bezahlen", sagt ein ranghoher Energy-Manager. Profit machen die Münchner vor allem mit der Wartung der installierten Basis.

Noch-Chef Kaeser nerven unterdessen nicht nur die Aktivisten vor und in der Olympiahalle. Sein Problem ist, dass auch die Glanzlichter des Konzerns nicht so stark sind, wie sie sein könnten. Die Medizintechniktochter Healthineers etwa. Gewöhnlich liefern Großgeräte wie Computertomografen zuverlässig Gewinn ab. Doch zuletzt blieben die Forchheimer hinter den Erwartungen zurück. Auch das Geschäft mit der neuen Diagnostikplattform Atellica läuft noch nicht. Die Folge: Der Gewinn schrumpfte, die operative Marge stürzte von über 16 auf 13,5 Prozent ab.

Besonders bitter: Ein künftiger Kern­bereich zeigt Schwäche. Die Industrie­digitalisierungssparte DI, bei der Siemens die Weltmarktführung für sich reklamiert, erlebte im Quartal einen Gewinneinbruch um ein Drittel. DI bedient auch die export­orientierte Industrie in Europa, deren Geschäfte wegen des Handelskonflikts zuletzt sehr mäßig liefen. "Inzwischen wurde ja die erste Phase eines Handelsabkommens zwischen den USA und China geschlossen. Wenn die Erholung kommt, dann wohl genauso schnell wie die Schwäche", versucht Siemens-Finanzchef Ralf Thomas zu beruhigen.

Kaeser läuft die Zeit davon


Doch auch im Hoch vor einem Jahr war DI nicht so profitabel wie globale Wettbewerber, etwa die US-Firma Rockwell. Vor Investoren räumen ranghohe Konzern­manager ein, dass DI zwar sehr innovativ sei, es aber zugleich vielfach noch bei der Vermarktung der Produkte hapere.

Selbst wenn es bis zum Wechsel an der Siemens-Spitze länger dauern sollte, bliebe Kaeser nicht mehr viel Zeit. Zeit, um zu beweisen, dass sein Plan, die Aufspaltung und Konzentration auf den Digitalisierungskern, Mehrwert bringt. Seit Kaesers Amtsantritt hat die Aktie laut Daten des Finanzdiensts Bloomberg mit Dividenden rund 63 Prozent Wertzuwachs gebracht, das ist ein Tick besser als der DAX. Der globale Branchenindex MSCI World Industrials brachte 118 Prozent Rendite. "Man kann Siemens aus Kapitalmarktsicht nur eine unterdurchschnittliche Leistung bescheinigen", sagt Fondsmanagerin Diehl.

Investor-Info

Siemens
Dividendenwert


Der operative Gewinn im Industriegeschäft brach um 30 Prozent ein, Siemens verfehlte die Erwartungen. Die Industriedigitalisierungssparte schwächelt, hinzu kommen Einbrüche in der Medizintechnik sowie bei der Windkrafttochter Gamesa. In allen Bereichen ist kurz- bis mittelfristig Besserung möglich. Die Jahresprognose wurde bestätigt, der Umsatz soll moderat wachsen, der Gewinn pro Aktie steigen. Die Dividende klettert weiter - deshalb trotz Problemen kaufenswert.

Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 135,00 Euro
Stoppkurs: 84,00 Euro