Die Zahlen, die Joe Kaeser am Mittwoch in der Mosaikhalle in Berlin, dem historischen Firmensitz von Siemens, vorlegte, zeugten von dringendem Handlungsbedarf. Der Umsatz war leicht auf 17,5 Milliarden Euro gesunken, der Auftragseingang um zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr gefallen. Das war wirklich kein Ausweis exzellenter Unternehmensführung, wie es Kaesers Anspruch ist. Immerhin: Der operative Gewinn der Sektoren stieg von Januar bis März um 16 Prozent auf 1,6 Milliarden Euro. "Das Quartal war durchwachsen", gab Finanzchef Ralf Thomas unumwunden zu.

Zeit für einen Rundumschlag. "Ein Unternehmenskonzept, keine Strategie", das legte Kaeser mit seiner lang erwarteten "Vision 2020" vor. Statt vier Sektoren mit 16 Divisionen wird es ab Oktober neun Divisionen geben, die sich um Energie und Industrie konzentrieren. Die Medizintechnik (Healthcare) fährt künftig solo, hier werden fast alle Aufgaben selbstständig ausgeführt, inklusive des weltweiten Vertriebs. "Wir wollen Siemens eine langfristige Perspektive geben und das Wachstum fördern", so Kaeser.

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Energie zieht nach Amerika

Die Vision spüren einige Spitzenmanager am eigenen Leib. Michael Süß, bis dato Energiechef, verlässt den Konzern. An seine Stelle rückt Anfang August Lisa Davis, bisher Strategiechefin beim Ölriesen Royal Dutch Shell. Industriechef Siegfried Russwurm und Technologiechef Klaus Helmrich tauschen die Posten.

Für Siemensianer vor allem am Standort Erlangen gab es eine eiskalte Dusche: Die Leitung des Energiebereichs zieht nach Amerika. Davis soll das Herzstück des Konzerns künftig von Orlando im Süden der USA aus führen. Dort sitzt der Bereich Energieservice mit rund 1000 Mitarbeitern. Diese Basis soll Davis nutzen, um US-Kunden aus dem Bereich Öl und Gas künftig intensiv zu beackern. "In den USA werden 75 Prozent des weltweiten Fracking- Gases erzeugt", erklärte Kaeser.

Wie viele Mitarbeiter aus Deutschland umziehen sollen, wie viele Arbeitsplätze wegfallen könnten? Auf diese Fragen gab Kaeser keine Antworten. "Davis soll ihr Ressort selbst aufbauen. Die Divisionen bleiben in Deutschland", versuchte der Konzernchef zu beruhigen.

Mit dem Vorstoß ins Öl- und Gasgeschäft trägt Kaeser vergleichsweise spät den Entwicklungen auf den Energiemärkten Rechnung. Während deutsche Versorger nach der Energiewende Kraftwerks- und Turbinenkapazitäten stilllegen, brummt das US-Geschäft. "Hier liegt der Gasturbinenmarkt der Zukunft", ist Kaeser überzeugt.

Doch die Hürden sind groß. Rivale General Electric ist schon da. Immerhin hat die künftige Energie chefin Davis auch schon bei Ölmultis wie Chevron oder Exxon gearbeitet. Kaeser passt auch gleich das Portfolio an: Weil die Münchner bislang fast nur große Turbinen im Angebot haben, kaufen sie Teile des britischen Rolls-Royce-Konzerns. Der hat kleinere Gasturbinen im Angebot, die zu einem dezentralen Erzeugungsmodell besser passen.

Die Energiewende bei Siemens tut offensichtlich not: Der operative Gewinn der bisherigen Vorzeigesparte war im ersten Quartal um über 50 Prozent eingebrochen. Zwei Energieübertragungsprojekte in Kanada hatten allein fast 300 Millionen Euro versenkt. Der Auftragseingang lag fast ein Viertel unter dem Vorjahr.

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Alstom ist ernst gemeint

Auf Davis wartet somit viel Arbeit. Und es könnte noch mehr werden, wenn der angestrebte Kauf der Energiesparte von Alstom klappt. Vor wenigen Tagen hatten sich die Bayern in die Verhandlungen von General Electric mit Alstom eingeschaltet. "Wir haben damit bewiesen, dass wir auch mitten in einer Neustrukturierung handlungsfähig sind. Wir nehmen das Engagement bei Alstom sehr ernst", sagte Kaeser.

In der Industrie will Siemens künftig auf die Digitalisierung und Vernetzung von Maschinen und Produktionsanlagen setzen und gründet die Division "Digital Factory". Hier sieht Kaeser großes Wachstumspotenzial. Das Geschäft läuft, im ersten Quartal hatte die Industrie den operativen Gewinn um fast ein Drittel auf 456 Millionen Euro gesteigert. Der Bereich wird bloß noch von der Medizintechnik übertroffen, die 531 Millionen Euro beisteuerte.

Der Konzern soll schlanker werden, eine Milliarde Euro will Kaeser bis 2016 in der Verwaltung sparen. Die zehn schwächsten Geschäfte, die "Bottom Ten", darunter die Energieübertragung, will der Chef bis 2017 auf Vordermann bringen.

Mit der Hörgerätesparte könnte laut Finanzchef Thomas "schon bald" ein Teil der Medizintechnik an die Börse gehen. Der Auftakt zu weiteren Maßnahmen, die Aktionären Freude bereiten? Die Eigenständigkeit der Medizintechnik deutet darauf, dass Kaeser in dem Bereich weitere Milliardenwerte heben will. Börsengänge wären denkbar oder Spin-offs wie bei Osram.

Für das laufende Jahr bestätigte Siemens die Prognose. Der Nettogewinn soll demnach um 15 Prozent gegenüber den knapp 4,3 Milliarden Euro des Vorjahres steigen - allerdings unter der Voraussetzung, dass der Umsatz mindestens auf Höhe des Vorjahres liegt. "Hierfür sehen wir gute Chancen. Zwar ist der Aufschwung in kurzzyklischen Geschäften wie der Industrieautomatisierung noch nicht nachhaltig. Doch die Nachfrage in Bereichen wie der Gebäudetechnik belebt sich", sagte Finanzchef Thomas am Rande der Veranstaltung gegenüber €uro am Sonntag.

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