Der 19. September 2014 - es ist der große Tag des Jack Ma. In einem schwarzen Anzug und einem dunkelblauen Hemd steht er in der Menge auf dem Parkett der New York Stock Exchange. An diesem Tag eröffnet die Wall Street mit dem größten Börsengang ihrer Geschichte. Der chinesische Onlinehändler Alibaba, den Jack Ma 14 Jahre zuvor gegründet hatte, gibt sein Börsendebüt.

Wenn ein Unternehmen an die Börse geht, darf der Boss den Knopf drücken, der die Glocke, die "Opening Bell", auslöst. Jack Ma hat darauf verzichtet. An seiner Stelle stehen acht Kunden von Alibaba oben auf der Empore. Fünf Frauen und drei Männer. Darunter ein ehemaliger chinesischer Olympiateilnehmer, der inzwischen Armbänder verkauft, und ein Kirschenpflücker aus dem Bundesstaat Washington. Um 9.30 Uhr läutet die Glocke. Aber Jack Ma muss wegen der Flut von Kaufaufträgen über zwei Stunden auf die Erstnotiz seiner Alibaba-Aktie warten, die dann bei 92,70 Dollar liegt. Der Zeichnungspreis hatte bei 68 Dollar gelegen.

Alibaba sprengt alle bisher dagewesenen Börsengänge. Inklusive der Mehrzuteilungsreserve von 48 Millionen Aktien, die ebenfalls platziert wurde, spielt der Gang aufs Parkett rund 25 Milliarden Dollar ein. Alibaba ist jetzt mehr wert als alteingesessene amerikanische Konzerne wie Walt Disney und Coca-Cola.

Die New Yorker Börse feiert ihn wie einen Rockstar. Zum Mittagessen trifft sich Ma mit Größen der amerikanischen Wirtschaft. Die Alibaba-Aktie hatte für ein Börsenmärchen aus Tausendundeiner Nacht gesorgt. Ihr Boss war jetzt mit einem Schlag einer der reichsten Chinesen. Der britische Premierminister David Cameron holte ihn in seinen Beraterstab. Aber Ma machte in Interviews auch keinen Hehl daraus, dass sein Leben durch zahlreiche Rückschläge und Niederlagen geprägt war. Dass er etwa zehnmal von der Eliteuniversität Harvard abgelehnt wurde.

Ma wurde 1964 in der Stadt Hangzhou im totalitären China der maoistischen Volksrepublik geboren. Seine Eltern waren Balladensänger und Geschichtenerzähler im klassischen chinesischen Stil des Pingtan. Schwere Zeiten, China war im Umbruch, und der junge Jack erlebte in seiner frühen Jugend noch das Chaos und die Gewaltexzesse der Kulturrevolution. "Ich war als Junge ganz dünn", erinnert sich Jack Ma. "Aber ich war ein gefürchteter Kämpfer."

Schon als Zwölfjähriger begann er sich für die englische Sprache zu interessieren. Er kaufte ein Radio, hörte regelmäßig den amerikanischen Auslandssender Voice of America und fuhr jeden Morgen und bei jedem Wetter mit dem Fahrrad 45 Minuten bis zu einem Touristenhotel, um dort mit Ausländern Englisch zu sprechen und sich als Reiseleiter anzudienen.

"Diese Jahre haben mich zutiefst verändert", sagte er später. Er wusste jetzt mehr von der Welt als die meisten Chinesen. "Was ich von meinen Lehrern und aus den Büchern gelernt hatte, das unterschied sich völlig von dem, was uns die ausländischen Besucher erzählten."

Mit 24 bewarb er sich am Hangzhou Teachers College - er wollte Englischlehrer werden. Zweimal fiel er bei der Aufnahmeprüfung durch, seine Noten in Mathematik waren nicht ausreichend. Beim dritten Mal klappte es, und Jack Ma schloss 1988 sein Studium mit einem Bachelor in Englisch ab. Jetzt stand die Jobsuche an. "Ich hatte immer diesen Traum, nach dem Studium ein Unternehmen zu gründen oder vielleicht ein Hotel zu eröffnen", erzählte er in einem Interview.

Er arbeitete schließlich für ein Monatsgehalt von umgerechnet 12 Dollar als Englischlehrer an der Universität von Hangzhou und gründete später ein Übersetzungsbüro. 1995 reiste er als Dolmetscher einer chinesischen Handelsdelegation zum ersten Mal in die USA - eine Reise, um die sich viele Gerüchte ranken. Angeblich sollte Ma für eine chinesische Firma bei deren amerikanischem Vertragspartner Schulden eintreiben. Doch statt zu bezahlen, zog der Amerikaner eine Waffe und hielt ihn in seiner Villa in Malibu gefangen. Ma gelang schließlich die Flucht und er konnte sich zu einem Freund nach Seattle absetzen. Dort entdeckte er zum ersten Mal das Internet, sah zum ersten Mal einen PC. Er tippte die Wörter "Bier" und "China" in die Suchmaschine Yahoo ein und stellte fest, dass für China keine Ergebnisse angezeigt wurden. Er erkannte sofort, dass das Internet in China enorme Geschäftsmöglichkeiten bieten könnte.

Zurück in Hangzhou gründete Jack Ma mit einem Startkapital von 2000 Dollar Chinas erste kommerzielle Webseite: China Yellow Pages, ein Branchenportal für Unternehmer. Das Projekt war ein Flop.

Seine nächste Idee war erfolgreicher. 1999 lieh er sich von Freunden 60 000 Dollar und gründete Alibaba.com, eine E-Commerce-Webseite, mit deren Hilfe sich chinesische Privatunternehmer mit westlichen Käufern verbinden und so die Zwischenhändler ausschalten konnten. Die Produktpalette reichte von Kleidern, Obst, Büromaterial, Ersatzteilen für Elektrogeräte und Spielzeugen bis hin zu Kuriositäten wie Wurstfüllmaschinen. Alles sollte gehandelt werden, die gängige Einheit war der Schiffscontainer.

Anders als Amazon handelte Alibaba nicht selbst mit Waren und hatte keine eigenen Warenlager, sondern stellte Online-Marktplätze zur Verfügung und verdiente an Provisionen und Werbung.

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Respektierter Geschäftsmann



Warum der Name Alibaba? In einem Straßencafé in den USA hatte er seinerzeit spontan 30 fremde Personen gefragt, ob ihnen der Name Alibaba geläufig sei. Alle hatten sich an den armen Holzfäller aus "Tausendundeiner Nacht" erinnert, der stets bereit war, anderen zu helfen. Und der Name war leicht auszusprechen.

Seine 150 Quadratmeter große Wohnung in Hangzhou wurde zur Unternehmenszentrale. Heute ist sie Wallfahrtsort für die rund 25 000 Angestellten des Konzerns. In dieser Wohnung arbeiteten und schliefen seine ersten Mitarbeiter. Ma hatte an der Universität seine spätere Frau Zhang Ying kennengelernt. In der Gründungsphase von Alibaba stand sie meist in der Küche und bekochte die Jungunternehmer. Da Ma auf jeden Yuan achten musste, gab es oft Nudeln aus der Tüte.

Über ihren Ehemann sagte sie einmal: "Ma ist kein gutaussehender Mann. Aber ich habe mich in ihn verliebt, weil er viele Dinge kann, die gutaussehende Männer nicht können." Auch Jack Ma kann zu diesem Thema eine Anekdote aus jener Zeit beisteuern, als er noch ganz am Anfang seiner Karriere stand: "Vor 14 Jahren fragte ich meine Frau: Willst du, dass dein Mann ein reicher Mann ist oder ein respektierter Geschäftsmann? Sie sagte: Natürlich ein respektierter Geschäftsmann. Sie dachte nie, dass ich mal reich würde."

Wenige Monate nach der Gründung beteiligte sich Goldman Sachs mit einem Investment von fünf Millionen Dollar an Alibaba. Später folgte die japanische Investmentgesellschaft Softbank mit 20 Millionen Dollar. Die Handelsplattform wurde schnell ein Erfolg, machte Ende 2002 bereits einen Gewinn von einer Million Dollar. Vor allem, weil Jack Ma sie ständig weiterentwickelte. Nicht nur Großhändler sollten von seinem Onlinekaufhaus profitieren, sondern alle chinesischen Konsumenten. So entstand 2003 Taobao, Chinas Ebay, das innerhalb von nur wenigen Jahren Marktführer wurde.

Jack Ma führte auch ein Online-Bezahlsystem ein: Alipay, das mit Paypal verglichen werden kann. Der Verkäufer erhält sein Geld aber erst, wenn die Ware tatsächlich beim Kunden angekommen ist und dieser seine Zufriedenheit bestätigt. Alibaba ist heute einer der erfolgreichsten Börsenstars der Welt. Der Onlinehandel in China wächst in einem atemberaubenden Tempo. Laut unserem Schwestermagazin "€uro am Sonntag" ist Alibaba "Chinas aussichtsreichste Internetaktie".