€uro: Herr Reisch, Sie sind Kapitän bei der "Mission Lifeline" und retten im Mittelmeer Flüchtlinge aus Seenot. Ihr Schiff "Eleonore" wurde im September auf Sizilien beschlagnahmt, gegen Sie wird wegen Begünstigung illegaler Einwanderung ermittelt, Ihnen drohen 300 000 Euro Strafe und 20 Jahre Haft. Sind Sie ein Schlepper?
Claus-Peter Reisch: Nein. Ich schmuggle keine Migranten im Kofferraum nach Europa. Ich rette Menschen vor dem Ertrinken.

Das ist aber Aufgabe staatlicher Stellen.
Weil Europas Staaten ihre Rettungsmissionen im Jahr 2015 weitestgehend eingestellt haben, müssen das nun leider wir tun. Wir machen das aber nicht heimlich. Wenn wir Flüchtlinge retten, teilen wir das den Behörden mit. Meist passiert das noch vor der Rettungsaktion, manchmal direkt danach.

Bei dem Vorfall vor Sizilien haben Sie das erst im Anschluss getan. Warum?
Wir waren etwas mehr als 30 Meilen vor der Libyschen Küste, hatten am Vorabend ein halb gesunkenes, leeres Schlauchboot entdeckt und dann eine Meldung über ein sechs Stunden entferntes zweites Boot bekommen. Wir sind dorthin gefahren, haben die ganze Nacht gesucht, aber nichts gefunden. Dann kam eine Meldung über ein drittes Boot, und wir machten uns dorthin auf den Weg. Dabei entdeckten wir zufällig ein viertes Schlauchboot mit 104 Menschen an Bord. Sie tranken Meerwasser, weil sie Durst hatten, der Motor ging nicht mehr, und eine Luftkammer war kaputt. Wir mussten sofort handeln.

Was ist mit den anderen Booten passiert?
Wir wissen es nicht. Aber wir gehen davon aus, dass sie gesunken sind. Ist das so, sind in dieser Nacht im September mindestens 300 Menschen im Mittelmeer ertrunken.

Sie haben die Flüchtlinge aus dem vierten Boot an Bord genommen und nach Sizilien gebracht. Dort wurde Ihr Schiff beschlagnahmt, weil Sie nicht hätten anlegen dürfen. Weshalb sind Sie nicht woanders hin?
Laut einem Dekret des damaligen italienischen Innenministers Matteo Salvini durften private Seenotretter nicht in italienische Gewässer. Uns blieb aber nichts anderes übrig. Wir waren acht Tage mit 104 Geretteten auf unserem 46 Quadratmeter kleinen Deck unterwegs. Das ist nicht einmal ein halber Quadratmeter pro Person zum Sitzen, Essen, Schlafen. Ein schwerer Gewittersturm mit Hagel ging über das Schiff hinweg, alle Gäste waren durchnässt und drohten zu unterkühlen. Unter solchen Umständen kann man nicht weit fahren. Das war der Hauptgrund, weshalb wir Sizilien ansteuerten.

War Malta keine Ausweichmöglichkeit?
Malta hatte 2018 schon eines unserer Schiffe beschlagnahmt, die "Lifeline". Damals hatten wir 234 Flüchtlinge gerettet. Es liegt immer noch dort im Hafen, der Prozess läuft. Dieses Mal hat Malta uns die Einfahrt verwehrt, und Griechenland, Spanien oder Korsika waren zu weit weg. Zudem waren wir in der italienischen Such- und Rettungszone.

Wieso haben Sie die Flüchtlinge nicht zurück nach Libyen gebracht?
Artikel 33 der Genfer Konvention verbietet das, das sagt auch ein vom Bundestag beauftragtes Gutachten. Außerdem wurden viele Flüchtlinge von Schleppern in Libyen erpresst und misshandelt. Würde ich ihnen sagen, dass es zurück nach Libyen geht, würden sie wohl von meinem Boot springen.

Deutschland streitet heftig über das Thema Migration. Dabei fällt immer wieder das Wort "Asyltourismus". Halten Sie die Menschen im Mittelmeer für Asyltouristen?
Dahinter steckt die Vermutung, dass viele Flüchtlinge aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen. Neben Krieg und Gewalt gehören Perspektivlosigkeit und Hunger sicher zu den Fluchtgründen. Natürlich darf eine Gesellschaft darüber diskutieren, wie man mit dieser Migration umgeht und wer bleiben darf und wer nicht. Aber erstens muss man jeden Menschen vor dem Ertrinken retten - egal, weshalb er nach Europa will. Und zweitens sollte jeder, der von Asyltourismus spricht, einmal auf mein Boot kommen und sich vor Ort ansehen, was da abgeht.

Was geht da ab?
Das fängt schon mit den Schlauchbooten der Flüchtlinge an: Die kann man im Internet bei Alibaba bestellen. Sie kosten 600 bis 800 US-Dollar, wenn man gleich einen ganzen Container kauft. Sie sind aus billigstem Material, kaum steuerbar, völlig untermotorisiert und haben nur einen Bruchteil des Treibstoffs an Bord, den man für eine Überfahrt bräuchte. Ob sie jemals irgendwo ankommen, ist den Schleppern egal. Denen geht es nur um ihren Profit. Die Schlepper zwingen die Menschen in die Schlauchboote, fahren aber selbst nicht mit, weil sie nicht lebensmüde sind. Dann treiben die Boote nach kurzer Zeit ohne Sprit auf offener See, und die Menschen sitzen brutal gesagt in ihrer ­eigenen Scheiße, weil es keine Toilette gibt. Sie haben Durst, Angst und keine Schwimm­westen. Mit Tourismus hat das nichts zu tun.

Kritiker sagen, dass Sie durch Ihre Rettungsfahrten Migranten erst zur Flucht ermuntern, weil Sie die Gefahr reduzieren.
Das ist Blödsinn, es gibt keinerlei Beweise für diese Behauptung. Zudem retten wir nur ­einen kleinen Bruchteil. Was wäre denn die ­Alternative zu unserer Arbeit? Sollen wir ­diese Menschen einfach ersaufen lassen?

Wie viele Flüchtlinge hatten Sie insgesamt schon auf Ihren Schiffen?
1000 vielleicht. Ich habe nicht mitgezählt.

Im Moment sind Ihre beiden Boote beschlagnahmt - eines in Sizilien, eines in Malta. Ist das nun das Ende Ihrer Mission?
Gerade bin ich nach Malta geflogen, und die Verhandlung ist mal wieder nach wenigen Minuten vertagt worden. Dort ist von allen Anklagepunkten aber nur übrig geblieben, dass das Schiff angeblich nicht korrekt regi­striert war. Auch auf Sizilien dürften sich die Vorwürfe schnell als gegenstandslos herausstellen, weshalb mich die 300 000 Euro Strafe, die dort im Raum stehen, nicht schrecken. Selbst wenn wir beide Schiffe verlieren, wollen wir so schnell es geht wieder auf See sein. Dann halt mit einem neuen Boot.

Woher soll das Geld dafür kommen?
Wir sind ein gemeinnütziger Verein und ­finanzieren uns durch Spenden. Die kommen von den Kirchen, von Promis wie Udo Lindenberg sowie von Privatpersonen. Die Spanne reicht von Kleinspenden bis zu großen Summen. Wir brauchen viel Geld, eine Mission kostet um die 3000 Euro pro Tag. Deshalb suche ich immer neue Spender.

Gab es schon Geld von großen Konzernen?
Liqui Moly hat uns das Motoröl geschenkt, und es gibt immer wieder kleine Firmen, die uns bei praktischen Dingen helfen. Aber von den großen deutschen Konzernen hat noch keiner etwas gegeben. Siemens-Chef Joe ­Kaeser habe ich per Brief um eine Spende gebeten, er hat bisher leider nicht geantwortet. Falls er dieses Interview liest, würde ich mich freuen, wenn er sich bei mir meldet.

Gibt es jemanden, von dem Sie kein Geld annehmen würden?
Wenn die Spende groß genug ist, würde ich mir sogar ein riesiges Red-Bull-Logo auf das Boot kleben. Da wäre es mir egal, dass Firmenchef Dietrich Mateschitz meint, man dürfe keine Flüchtlinge nach Europa lassen.

Haben Sie ein Eigeninteresse daran, dass Mission Lifeline viel Geld einnimmt?
Ich zahle mir kein Gehalt, falls Sie das meinen. Mission Lifeline hat nur zwei Minijobs in der Verwaltung, der Rest sind Freiwillige. Die machen das in ihrem Urlaub oder neben dem Studium. Ich selbst habe vor einigen Jahren meine Sanitärfirma verkauft und bin finanziell unabhängig genug, um diesen Job machen und auf Geld verzichten zu können.

Trotzdem sammeln Sie auf der Crowdfunding-Plattform Leetchi gerade 350 000 Euro für den Prozess auf Sizilien ein.
Da stehen wir bisher leider erst bei 25 000 Euro, und mit dem Geld übernehme ich zusätzlich die Prozesskosten für meinen ersten Offizier, der Student ist. Wir bekommen kein Gehalt, im Gegenteil: Ich zahle Flüge und ­andere Dinge immer wieder aus eigener Tasche. Ich bin der Ansicht, dass wir nicht auch noch auf den Prozesskosten sitzen bleiben müssen. Sollten wir mehr einnehmen als der Prozess verschlingt, werden wir den Rest für die Seenotrettung ausgegeben. Das Geld ist also nicht für mein privates Gartenfest.

Innenminister Horst Seehofer hat im Oktober angekündigt, Deutschland werde künftig ein Viertel der im Mittelmeer geretteten Flüchtlinge aufnehmen - eine überraschende Wende. Kurz zuvor hatten Sie ihn besucht. Sind Sie dafür verantwortlich?
Das weiß ich nicht genau. Jedenfalls war das Gespräch mit ihm erstaunlich konstruktiv.

Was wünschen Sie sich von der Politik?
Dass sie wieder ernsthaft Seenotrettung betreibt und meine Arbeit damit überflüssig macht. Bis das passiert, würde es reichen, wenn man uns weniger Steine in den Weg legt und wir etwa problemlos Häfen anlau­fen oder Proviant aufnehmen dürfen.

Claus-Peter Reisch kam durch seine große Leidenschaft zur Seenotrettung: 2015 fragte er sich der gelernte Mechatroniker und Skipper bei einem Segel­törn im Mittelmeer, was er tun würde, wenn er auf ein Boot mit Flüchtlingen treffen würde. 2017 startete er dann mit der "Sea-Eye" zu seiner ersten Rettungsmission, heute ist er Kapitän bei Mission Lifeline. Reisch mag Oldtimer, spielt Akkordeon und lebt in der oberbayerischen Kleinstadt Landsberg am Lech. Über seine Arbeit als Seenot­retter hat er gerade ein Buch geschrieben: "Das Meer ­der Tränen" (Riva ­Verlag, 19,99 Euro).

Mission Lifeline


ist ein 2016 gegründeter ­gemeinnütziger Verein mit dem Ziel, Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Die ersten Einsätze fuhr der Verein mit dem Schiff "Lifeline", das 2018 in Malta festgesetzt wurde. Danach kaufte er die "Eleonore", die im September in Sizilien beschlagnahmt wurde. Der Verein hat viele Unterstützer, unter anderem die katholische und die evangelische ­Kirche, den Sänger Udo ­Lindenberg, die Band Die Fantastischen Vier, den ­Kabarettisten Urban Priol oder den Moderator Jan ­Böhmermann, der rund 200 000 Euro für Mission Lifeline gesammelt hat. ­Lifeline-Kapitän Claus-Peter Reisch hat - auch stellvertretend für seine Crew - unter anderem den Europa-Preis der Bayern-SPD, den Lew-Kopelew-Preis und den Menschenrechtspreis der Österreichischen Liga für Menschenrechte verliehen bekommen.