Aufgeräumt und bestens gelaunt zeigt sich Ralf Thomas, von Stress keine Spur, dabei hat der Finanzchef von Siemens am Morgen schon wichtige Termine absolviert. Die Bilanzpressekonferenz, danach die Präsentation vor Finanzanalysten. Routine war das in diesem Jahr keineswegs, denn es war eine doppelte Premiere: Die Bilanzvorlage war die erste von Vorstandschef Roland Busch, der seit Februar im Amt ist. Es war zugleich der erste Abschluss des Traditionskonzerns in neuer, schlankerer Struktur. Im Herbst 2020 wurde das alte Herzstück, die Energietechnik, mit der Tochter Siemens Energy abgespalten und an die Börse gebracht.

Siemens berichtet und die Aktie fällt - so lief es früher oft genug bei den Münchnern. Einst kam kaum ein Jahresabschluss ohne eine Überraschung der unangenehmen Sorte aus. Ob Lieferverzögerungen bei ICEs, aus dem Ruder laufende Kosten bei Prestigeprojekten wie Stromanschlussplattformen für Windparks vor deutschen Küsten oder nicht enden wollende Probleme auf Kraftwerksbaustellen.

Bei der neuen Siemens erklimmt der Kurs Rekordhöhen, denn die Münchner liefern eine operative Marge, die man einst dem Erzrivalen GE zutraute, nicht aber dem behäbigen DAX-Riesen. Das Unternehmen ist schlanker und schneller geworden. Doch reicht das? €uro am Sonntag sprach mit Finanzchef Thomas über den andauernden digitalen Wandel, eine Zukunft von Siemens als Softwarekonzern und die grassierende Welle von Abspaltungen und Verselbstständigungen in der Industrie.

Euro am Sonntag: Herr Thomas, Sie sind auch als Honorarprofessor für BWL an der Universität Erlangen-Nürnberg tätig. Wie oft sehen Sie Ihre Studenten?

Ralf Thomas: Ich halte eine Vorlesung im Rahmen eines Masterstudiengangs, das sind etwa drei Tage pro Semester. Mit Routine und dank gegenwartsrelevanter Themen geht das sehr gut.

Vermutlich ist das Zeitbudget vor dem Jahresabschluss besonders knapp ...

Die Veranstaltung findet blockweise statt, so kann man gut planen. Wir diskutieren in einer kleinen Gruppe von Studenten intensiv Konzepte aus der Unternehmenspraxis, das macht sehr viel Spaß.

Apropos Praxis, im abgelaufenen Geschäftsjahr wuchs Siemens beim Umsatz zweistellig und schaffte einen 60-Prozent-Sprung beim Nettogewinn. Die operative Marge im industriellen Geschäft stieg auf rekordverdächtige 15 Prozent. Können Sie das noch toppen?

Es geht uns nicht um Rekorde, sondern um die strukturelle Qualität des Geschäfts. Wir sind technologieorientiert, die aktuellen Trends der Digitalisierung, Automatisierung und Nachhaltigkeit kommen uns zugute. Wir haben das richtige Portfolio dafür. Gerade Corona rückt die Digitalisierung in Deutschland noch weiter nach vorn. Hinzu kommt, dass wir schon vor 15 Jahren in den Bereich industrieller Software eingestiegen sind. Die kurze Antwort: Ja, das können wir toppen.

Laut Ihrer Prognose wird das Wachstumstempo mit rund fünf Prozent im laufenden Geschäftsjahr aber langsamer. Was macht Sie vorsichtig?

Im Kapitalgüterumfeld ist ein Umsatzwachstum von über elf Prozent, wie wir es gerade für das Geschäftsjahr gezeigt haben, eine hohe Absprungbasis. Vor dem Hintergrund, dass Siemens Healthineers (Medizintechnik-Tochter, Siemens hält 75 Prozent, die Red.) nach der Sonderkonjunktur mit Antigentests und dem starken Umsatzsprung im Vorjahr für die laufende Periode bis zu zwei Prozent Zuwachs prognostiziert, kann sich unser angestrebtes Wachstum der Umsatzerlöse im prozentual mittleren einstelligen Bereich sehen lassen. Das heißt nämlich für die drei Kernsparten, dass sie schneller wachsen. Wenn wir im Konzern angesichts von Lieferengpässen, Rohstoff- und Materialpreissteigerungen prozentual mit einem mittleren einstelligen Umsatzplus aus dem laufenden Geschäftsjahr herauskämen, wäre das eine fantastische Leistung und eine schöne Wachstumsgeschichte im Mehrjahreszeitraum.

Lieferengpässe und Logistikprobleme hatte Siemens zuletzt offenbar gut im Griff. Inwiefern könnten diese Themen im laufenden Jahr bremsen?

Wir arbeiten in der Produktion mit unseren eigenen Softwaretools und haben in vielen Fällen einen zweiten Zulieferer, falls der erste ausfällt. Unsere Fabriken sind extrem flexibel, wir bauen nahezu jeden Tag das Fertigungsprogramm in den großen Lead-Factories fünf-, sechsmal um. So haben wir auch keine Stillstände, wenn ein Container mal nicht ankommt. Damit demonstrieren wir übrigens auch unseren Kunden die Widerstandskraft, die sie mit unseren Lösungen kaufen können. Auf der Einkaufsseite bringt der Name Siemens Vorteile, wir erhalten bei vielen Zulieferern Priorität. Einkaufsmacht bedeutet in dem Fall auch, dass unsere Inflation auf der Beschaffungsseite etwas niedriger ist als beim Wettbewerb.

Sie wollen die Verkaufspreise im laufenden Jahr quer über das Portfolio erhöhen. Wie gelingt das in einem fragilen globalen Konjunkturumfeld?

In China hatten wir in der Automatisierungstechnik zuletzt rund 60 Prozent Wachstum im Auftragseingang, unsere Kunden sorgen sich, dass sie kein Material bekommen. Wir gewinnen Marktanteile und sind auch angesichts der Wertschaffung unserer Produkte für die Kunden in der Lage, höhere Preise durchzusetzen. Gewöhnlich machen wir das mindestens einmal im Jahr, angesichts der aktuellen Inflation überprüfen wir unsere Preise nun noch regelmäßiger.

Der größte Gewinnbringer im Konzern, die Sparte DI, verkauft nicht nur Automatisierungstechnik, sondern auch industrielle Software. Sie führen hier im Vertrieb ein Abo-Modell ein, bieten "Software as a Service", kurz SaaS. Das kostet, die Margen von DI sinken. Geht denn Ihr Plan auf, damit auch kleinere Firmenkunden zu gewinnen?

Wir sehen die zwei Jahre, in denen wir wie angekündigt bis zu zwei Prozentpunkte an Margeneffekt bei DI bewusst in Kauf nehmen, als Investition. Unsere Kunden haben durch das SaaS-Modell immer den neuesten Stand und müssen anders als beim Lizenzmodell keine hohen Anschaffungsinvestitionen finanzieren. Das erschließt uns neue Kundengruppen und bringt uns ein stabileres, vorhersehbareres Geschäft, weil die Hürden für einen Vertragsabschluss niedriger sind. Es ist eine Superchance. Im eingeschwungenen Zustand wird uns die Umstellung zusätzliche Marge bringen - sowie mehr Wachstum und eine höhere Kundenbindung.

Gewinnen Sie kleinere Kunden?

Die Reaktionen sind positiv, wir wollen demnächst erste Details bekannt geben.

Das Softwaregeschäft macht rund 5,6 Milliarden Euro Umsatz aus und soll bis 2025 um zehn Prozent pro Jahr wachsen. Zukäufe spielten immer eine große Rolle, haben Sie akut Ziele im Blick?

Wir investieren kontinuierlich in unsere technologische Führungsposition, indem wir jedes Jahr fünf bis zehn kleinere Zukäufe tätigen, und wir identifizieren regelmäßig Gelegenheiten auf Start-up-Niveau, die wir auf die eine oder andere Weise wahrnehmen. Wenn uns ein hochattraktives größeres Unternehmen begegnet, sind wir auch handlungsfähig. Ich sitze als Finanzchef auf einer gut gefüllten Kasse, das Geld sitzt aber keineswegs locker. Zwischen einzelnen Investitionsprojekten herrscht bei uns große Konkurrenz. Alle müssen einen festen Kriterienkatalog erfüllen. Auch eigene Projekte sind hochattraktiv, denken Sie an die rund 350 Millionen Euro, die wir in das neue Photonentechnologie-Center in Forchheim investieren. In Forchheim wird auch die neueste Generation von quantenzählenden Computertomografen produziert, die die US-Zulassungsbehörde FDA als erste signifikante, neue Technologie für die Computertomografie seit fast einem Jahrzehnt qualifiziert hat.

Software bleibt laut Chef Roland Busch weiter im Fokus. Siemens investiert demnach in Bereiche wie künstliche Intelligenz. Wird Siemens langfristig zu einem Softwarekonzern?

Es geht bei der Digitalisierung zwar auch um künstliche Intelligenz, etwa um Mustererkennung, um Abläufe zu verbessern, oder um Interoperabilität von Komponenten. Aber unsere Kernkompetenzen liegen im Anwendungswissen. Wir haben über Jahrzehnte Know-how für und Beziehungen zu unseren Kunden aufgebaut, die führend in ihren Branchen sind. Unser Wettbewerbsvorteil liegt an der Schnittstelle zwischen realer und digitaler Welt.

Braucht Siemens die Verbindung zur Hardware, um sich gegen die potenzielle Konkurrenz in der Digitalisierung durch die großen US-Techkonzerne zu behaupten?

Es fließt immer mehr Intelligenz in die Komponenten, die in den Werkshallen eingesetzt werden. Dieser Trend kommt uns zugute. Auf lange Sicht wird aber auch hier viel standardisiert und Komponenten werden günstiger. Unsere Kompetenz liegt im Wissen um die Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle des Kunden und wie sich diese zukünftig entwickeln. Das macht uns einmalig.

Die Energiesparte kam 2020 an die Börse, die Medizintechnik bereits 2018. Mit der Fokussierung haben sich Tempo und Profitabilität bei Siemens erhöht. Macht es nicht Sinn, noch mehr Komplexität abzubauen?

Die Reduktion von Komplexität war nicht das Motiv, wir haben unser Geschäft schon immer gut verstanden. Die Geschäfte haben in der neuen Struktur aber weitaus größere Handlungsspielräume. Healthineers etwa hätte die Übernahme von Varian (US-Krebstherapie-Spezialist, kostete 14 Milliarden Euro, die Red.) in der alten Konstellation kaum stemmen können. Selbstständig und mit entsprechender Eigenkapitalausstattung hat es funktioniert.

Wäre es nicht interessant, etwa das Softwaregeschäft irgendwann an die Börse zu bringen?

Das ist die Geschichte, dass alles zerschlagen werden muss und Pure Play besser ist. Aber was passiert wirklich nach so einem Börsengang? Wenn es einen Hype gibt, verdienen vor allem kurzfristige Investoren ein Vielfaches. Behalten wir das Geschäft, ist das Bewertungs-Vielfache womöglich kurzfristig nicht so hoch, aber die Wertsteigerung bleibt im Unternehmen und kann hier reinvestiert werden - was weitere, auch volkswirtschaftliche Werte schafft.

Erzrivale General Electric spaltet sich jetzt komplett auf und bringt alle Bereiche separat an die Börse. Der Kapitalmarkt applaudiert. Die Konzerne Johnson & Johnson und Toshiba machen es ebenfalls. Spüren Sie keinen Druck?

Nein, wir sind ja schon viele Schritte weiter, was unsere Konzernstruktur angeht. Wir haben bereits umgesetzt, was die anderen erst mal nur angekündigt haben - die haben noch einen weiten Weg vor sich. Wir sind hier um Jahre voraus und die Börse findet es auch gut - der Börsenwert von Healthineers hat sich seit dem IPO im März 2018 mehr als verdoppelt. Und auch Siemens ist seitdem um über 71 Prozent bei der Gesamtrendite der Aktie gewachsen.

Hat die Börse die Vorteile der neuen Siemens-Struktur bereits angemessen gewürdigt - ein gewisser Konglomeratsabschlag scheint immer noch da?

Wie gesagt, wir sind auf einem sehr guten Weg, der Total Shareholder Return hat sich sehr gut entwickelt. Zum Konglomeratsabschlag, meinem Lieblingsthema: Ich nenne das Misstrauensabschlag. Es gab Zeiten, da hatte Siemens 15 Sparten, in denen es bei der Breite dann auch immer irgendwo wieder Rückschläge gab. Die fokussierte Aufstellung sorgt dafür, dass das vorbei ist. Und jetzt müssen wir extrem kontinuierlich - man könnte auch langweilig sagen Quartal für Quartal - abliefern, dann verschwindet auf lange Sicht dieses Misstrauen und der noch verbleibende Abschlag. Wir sind ein nachhaltiges Wachstumsunternehmen, weil wir auch die Tage nach morgen in unsere Überlegungen mit aufnehmen.

Siemens scheint bei den Portfolio-Gesellschaften, Firmen und Beteiligungen abseits des Kerngeschäfts ein Neustart gelungen, der Bereich ist inzwischen profitabel. Was hat sich geändert?

Wir denken wie Private-Equity-Firmen, anstatt nur zu restrukturieren. Wir sind flexibel und haben viele Lösungen parat. Den Getriebehersteller Flender haben wir gewinnbringend verkauft. Ein anderes Beispiel für Wachstumsfinanzierung außerhalb der Portfoliounternehmen ist unsere Beteiligung an Fluence. Der erfolgreiche Börsengang dieses Stromspeicher-Joint-Ventures wirft für das laufende Jahr hohe Sondererträge ab. Fluence ist übrigens sogar ein Unicorn, ein Start-up mit Milliardenbewertung. Und wir haben vier, fünf weitere Firmen in der Pipeline, die wir wertsteigernd unterbringen wollen.

Der Nettogewinn soll weiter zulegen. Steigt auch die Dividende weiter?

Wir stehen zu unserer progressiven Dividendenpolitik, die Ausschüttung soll nicht mehr unter vier Euro pro Aktie liegen.

1995 starteten Sie bei Siemens, damals mit einer Vielzahl von Sparten. Wie hat sich die Kultur im Konzern verändert?

Als ich zum ersten Mal ins Büro des damaligen Finanzvorstands ging, kam mir der Weg von der Tür bis zum Schreibtisch wie ein Marathon vor. Ich bin immer kleiner geworden und habe versucht, bloß keinen Fehler zu machen. Das lag nicht an ihm, sondern an meiner Wahrnehmung. Heute wünsche ich mir, dass meine Mitarbeiter alle ihre Ideen offen auf den Tisch legen. Ich will an ihrem Wissen teilhaben, wir haben schließlich die Besten in der Branche. Die bekommen wir, weil Siemens optimale Entwicklungsmöglichkeiten von der Forschung bis zur Gründung eines Start-ups bietet. Wir arbeiten auch längst nicht mehr überwiegend in regulierten Märkten, sondern müssen schnell auf Veränderungen im Markt reagieren. Das setzt voraus, dass die Mitarbeiter vor Ort die Sensoren, ihre Signale rasch senden können. Und das funktioniert am besten mit flachen Hierarchien.
 


Vita:

Experte für Bilanzen

Ralf Thomas (60) studierte nach der Ausbildung zum Industriekaufmann Betriebswirtschaftslehre an der Friedrich-Alexander Universität (FAU) in Erlangen-Nürnberg. Anschließend promovierte er an der FAU auf dem Gebiet des Bilanzsteuerrechts. Er startete 1995 bei Siemens, nach Stationen in der Medizintechnik und der Industriesparte wurde er 2013 Finanzvorstand unter Chef Joe Kaeser und war eng in die grundlegende Restrukturierung von Siemens unter Kaeser involviert. Thomas ist Vater dreier Töchter.
 


INVESTOR-INFO

Siemens

Starke Treiber

Der Konzern hat Top-Ergebnisse vorgelegt. In der seit Oktober laufenden Periode dürfte sich das Wachstum verlangsamen, auch deshalb, weil die Vorzieheffekte in der Sparte Digital Industries abnehmen. Die Trends zur Digitalisierung in der Industrie, zur nachhaltigen Technik in Gebäuden sowie der Stärkung des Schienenverkehrs treiben das Geschäft. Das stark wachsende Softwaregeschäft lässt die Bewertungsfaktoren tendenziell steigen. Attraktive, progressive Dividendenpolitik.