Die Digitalisierung ist in vollem Gange. Sie durchdringt alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Der Mensch ist immer stärker vernetzt, kauft über das Smartphone Musik und Schuhe und verschickt abends über den privaten Tablet-PC beruflich Nachrichten. Unsere Hauselektronik lässt sich samt Küchengeräten von außen steuern, und unsere Autos kommunizieren mit ihren Herstellern oder anderen Fahrzeugen.

Doch wie jede massive Umwälzung bringt auch die digitale Revolution nicht nur Chancen, sondern auch Risiken für die etablierten Marktteilnehmer. Das Unternehmernetzwerk "Münchner Kreis" hat 2014 eine Zukunftsstudie zu den Herausforderungen der Digitalisierung für die deutsche Wirtschaft veröffentlicht und kommt darin zu interessanten Ergebnissen. Eines lautet: Die Digitalisierung wird traditionelle Branchengrenzen durchbrechen, neue Wirtschaftszweige mit neuen Anbietern werden entstehen. Die ersten Beispiele sorgen bereits für Schlagzeilen: Die Digitalisierung der "Mitwohn"-Branche bringt aggressive Wettbewerber für Hotels hervor, und aus Mitfahrangeboten werden höchst preiswerte Taxiservices. Die Autoren der Studie geben viele Antworten auf die Herausforderungen. Eine klingt provokant: "Kannibalisiert euch". Das heißt: Unternehmen werden durch den Änderungsdruck der Digitalisierung gezwungen, bekannte Pfade zu verlassen und frühzeitig neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Bisher verlaufen Innovationen in unserem Markt so: Funktionierende und profitable Geschäftsmodelle werden so lange wie möglich geschützt und sukzessive um neue Angebote ergänzt. Erst wenn diese ausgereift sind, lösen sie das alte Geschäft nach und nach ab. Von dieser vorsichtigen Herangehensweise müssen sich Unternehmen nun verabschieden. "Kannibalisierung" bedeutet, ein funktionierendes Geschäftsmodell durch ein neues, vielleicht unausgereiftes und weniger profitables Modell zu ersetzen. Das erfordert Mut und Risikobereitschaft.

Auf Seite 2: Was die erste Phase gezeigt hat



Als in der ersten Phase der Digitalisierung die Internetnutzung zum Massenphänomen wurde, ließ sich bereits erahnen, dass der "sanfte" Weg zu neuen Geschäftsmodellen nicht mehr funktionieren würde. Zeitungsverlage beispielsweise wollten ihre Printprodukte schützen und Onlinepräsenzen allenfalls als Imageplattformen nutzen - heute leiden sie unter dem existenziellen Einbruch der Werbeeinnahmen. Warenhausketten hatten über Jahre keine Strategie für den Verkauf über das Internet, sie wollten die Kunden im Kaufhaus halten. Mittlerweile schrumpfen die Verkaufszahlen drastisch - die Kunden kaufen im Web.

Aber es gibt auch positive Beispiele, wie die IT-Industrie zeigt: Vor einigen Jahren kam das Thema Cloud Computing auf. Computerleistungen sollten nicht mehr auf dem eigenen Großrechner und dem PC vorgehalten, sondern aus entfernten Rechenzentren über das Internet geliefert werden. Innerhalb kürzester Zeit stand eine Reihe tradierter Geschäftsmodelle der IT-Industrie zur Disposition. IT-Outsourcing-Dienstleister wie Atos verdienen schließlich ihr Geld unter anderem mit dem Betrieb von Servern sowie der Installation, Entwicklung und Wartung von Computern und Software. Cloud Computing zentralisiert nun die Leistungen in großen Rechenzentren, wodurch der Aufwand, diese zu betreiben, sinkt. Wie reagierten die betroffenen Unternehmen? Sie kannibalisierten sich. Innerhalb weniger Jahre stieg der Anteil von Cloud- Lösungen am IT-Outsourcing-Geschäft auf mittlerweile 23 Prozent und soll sich in den nächsten Jahren auf fast 50 Prozent erhöhen. Die Rechnung war für jeden IT-Anbieter ganz einfach: Entweder ersetze ich selbst mein bisheriges Leistungsportfolio durch Cloud Computing, oder ein Wettbewerber tut es - und übernimmt meine Kunden. Kannibalisierung bedeutet also langfristig Selbstschutz. Wenn es uns gelingt, diese Mentalität der Agilität und Anpassung zu etablieren, dann bringt die Digitalisierung der deutschen Wirtschaft einen enormen Wachstumsimpuls.

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Winfried Holz

Seit Juli 2011 ist der Wirtschaftsingenieur Winfried Holz Chief Executive Officer (CEO) von Atos Deutschland. Zuvor hatte er unter anderem Führungspositionen bei Siemens und Fujitsu inne. 2013 wurde Holz erstmals ins Präsidium des Branchenverbands Bitkom berufen. Der Verband vertritt mehr als 2000 Unternehmen aus dem Umfeld von Informationswirtschaft, Telekommunikation und neuen Medien.